Die Ratlosigkeit nach der Tragödie um die Brandenburger Mutter, die neun ihrer Säuglinge direkt nach der Geburt getötet haben soll, ist groß. Mitten hinein ist der Brandenburger Innenminister Jörg Schönbohm mit einer schnellen Erklärung geplatzt, die für heftige Kritik aus allen politischen Richtungen sorgt. Der CDU-Politiker hat eine Verrohung ostdeutscher Randgebiete ausgemacht und deren Ursachen auch in der mangelnden Wertevermittlung und einer "erzwungenen Proletarisierung" unter dem SED-Regime gesehen.
Während zahlreiche Politiker auch aus der CDU die Thesen energisch zurückweisen, ist das Echo unter Wissenschaftlern unterschiedlich. So verweist der Kriminologe Christian Pfeiffer auf die Kriminalstatistik. "Danach werden gerechnet auf 100.000 Einwohner in Ostdeutschland etwa drei mal so viele Kinder von ihren Eltern getötet wie in Westdeutschland", sagt der Direktor des Kriminologischen Institutes Niedersachsen der AP. Unmittelbar nach der Wende sei der Unterschied sogar noch größer gewesen.
Breite Ursachenforschung
"Generell ist die Frage schon berechtigt: Was hat die DDR den Menschen mitgegeben an Stabilität im persönlichen Bereich, an Empathie für Kinder", erklärt Pfeiffer. Er kenne völlig überforderte Mütter, die auch keine Unterstützung von Nachbarn oder Freunden erhielten, häufiger aus dem Osten als dem Westen. Zudem verweist er darauf, dass Sabine H. schon 1988 in der DDR mit ihren Verbrechen begann. Pfeiffer schränkt aber ein, die Ursachen seien noch längst nicht erforscht.
Auch der Historiker Hubertus Knabe unterstützte den Brandenburger Innenminister. "Die Erklärung von Schönbohm ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Es ist sinnvoll, über die gesellschaftlichen Ursachen nachzudenken", sagt der Leiter der Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, im MDR-Hörfunk. Freilich könne man nicht sagen, dass alle Ostdeutschen Kinder töteten, erklärt Knabe.
Ein Einzelfall ergibt noch keine Mentalitätsstruktur
Andere Wissenschaftler kritisieren Schönbohms Begriff von der "Proletarisierung". "Die Proletarier waren doch keine Lumpen, sondern lebten quasi in einem Hort gewerkschaftlich und sozialdemokratisch organisierter Bürgerlichkeit", sagt der Soziologe Karl-Siegbert Rehberg der AP. Aus dem Einzelfall in Frankfurt/Oder könne man keine Mentalitätsstruktur der Ostdeutschen ablesen. "Das ist in höchsten Maße unsinnig", erklärt der Professor an der Technischen Universität Dresden.
Dem schließt sich der Politiksoziologe Bernhard Muszynski an. "Es wird eine furchtbare individuelle Katastrophe in ein kollektives Erklärungsmuster gebracht", analysiert der Professor der Universität Potsdam im RBB-Inforadio. Er verweist darauf, dass sich die Randgruppen der Gesellschaft in Ost und West nicht unterscheiden. "Die Wertevermittlung und der Zwang, zu den Werten zu stehen, waren in der DDR eindeutig größer als jetzt", erklärte Muszynski.
Es fehlen Werte bildende Menschen
Sein Dresdner Kollege Rehberg verweist zudem auf die Individualisierungstendenzen in allen westlichen Großstädten. In deren Anonymität gebe es viele Menschen, die sich vor der Umwelt zurück zögen und selbst abriegelten. Mit Blick auf die tatverdächtige Mutter Sabine H. sagt Rehberg: "Die Frau war verloren. Aber aus welchen Konstellationen, da muss man sich den Fall genau ansehen." In der Tragödie werden die Ermittlungen der kommenden Wochen voraussichtlich erste Erklärungen ans Licht bringen. Generell aber fürchten Wissenschaftler schon länger auch die Folgen der anhaltenden Abwanderung leistungsfähiger Menschen aus ostdeutschen Kleinstädten und Dörfern.
Der frühere Brandenburger Bildungsminister Steffen Reiche (SPD) reagiert auf Schönbohms Äußerungen mit einem Hinweis auf die in Brandenburg stärker als in anderen Bundesländern ausgeprägte Elitenabwanderung. "Gerade Werte bildende Menschen sind in großer Zahl weggezogen, und das schon seit gut 50 Jahren", sagt der designierte Brandenburger SPD-Spitzenkandidat der "Berliner Zeitung".