"Zum Sterben gut" Friedhof als Kochbuch: TikTokerin kocht Rezepte, die sie auf Grabsteinen findet

Grab mit Rezept
Das erste Rezept, das Rosie Grant getestet hat: Spritzgebäck, verewigt in einem steinernen Buch auf einem Friedhof in Brooklyn, New York
© Screenshot TikTok
Es ist ein seltenes Phänomen, doch auf Tiktok findet es aktuell tausende Anhänger: Rezepte, die Verstorbene als Inschrift auf ihrem Grab hinterlassen haben. Rosie Grant will sie alle finden und nachkochen. 

In ihrem ersten Koch-Video, das Rosie Grant auf TikTok teilte, rührt die 33-Jährige Butter, Mehl und Zucker zusammen, mischt ein Ei unter den Teig und formt Kekse daraus. Eine Anleitung gab es nicht, nur die Zutaten standen in dem Rezept, erinnert sich die Bibliothekarin, die aus dem US-Bundesstaat Maryland stammt. "Es hat gut geschmeckt, aber überraschender war, wie viele Leute meinen ersten Beitrag angesehen haben", erzählt die US-Amerikanerin dem "Guardian". Das Video ging viral. Nicht weil es sich um ein besonders außergewöhnliches Gericht handelt oder weil es einen Kitchen Hack zeigt, sondern weil das Rezept von einem Grabstein stammt.

"Zum Sterben gut"

Rosie Grant lässt sich auf Friedhöfen zum Kochen und Backen inspirieren. Sie sucht – hauptsächlich online – nach Grabsteinen, auf denen Rezepte eingraviert sind, kocht und backt diese nach und veröffentlicht das Ganze auf TikTok. Mit ihrem besonderen Hobby begeistert sie inzwischen mehr als 194.000 Follower. Rezepte auf Grabsteinen sind relativ selten, sagt Loren Rhoads, Dozentin für Friedhofsgeschichte, der "Washington Post". Dennoch gibt es, vor allem in den USA, einige davon. Rund 20 Stück hat Rosie Grant bereits gefunden, zwei davon in Israel. Die Rezepte stammen ausschließlich von Frauen und überwiegend seien es Desserts, berichtet die 33-Jährige der "Washington Post". Ob Pfirsich-Cobbler, Snickerdoodle-Kekse, Heidelbeerkuchen, Käsedips – alle ihre Clips beendet Rosie Grant mit den Worten "zum Sterben gut".

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Erstmals auf die besonderen Grabsteine aufmerksam wurde die US-Amerikanerin 2021 im Rahmen eines Praktikums. Während ihres Masterstudiums in Bibliotheks- und Informationswissenschaften arbeitete sie im Digitalarchiv eines Friedhofs in der Hauptstadt Washington. Ihr Professor schlug ihr vor, einen TikTok-Channel über Friedhöfe ins Leben zu rufen, wie sich im Gespräch mit n-tv erzählt. Dabei entdeckte sie, "wie interessant Friedhöfe als Aufbewahrungsorte für die Geschichte sind", sagt sie dem "Guardian". Unter anderem fiel der Studentin auf, wie sich Grabseine im Laufe der Zeit verändern: Während früher meist nur Name und Lebensdaten eingraviert waren, fügen die Leute heutzutage gerne etwas Persönliches hinzu.

Nach Abschluss des Praktikums zeichnete sie weiterhin Friedhofsinhalte auf ihrem TikTok-Konto auf. Schnell fand sie ein Publikum. Auf der Plattform gebe es eine riesige Community von Personen mit einer Leidenschaft für Friedhöfe, Beerdigungen und Grabsteine, erzählt sie der "Washington Post". Darüber stieß sie auf das erste Rezept. "Ein Grabstein bildet ab, was ein Mensch im Leben geliebt hat. Das können also auch das Kochen und jeweilige Lieblingsrezept sein", zitiert das österreichische Nachrichtenportal "Heute" die 33-Jährige. Das Spritzgebäck stammt von einer Frau namens Naomi Odessa Miller-Dawson. Sie ist 2009 im Alter von 87 Jahren verstoben in Brooklyn, New York, beerdigt worden.

Auf ihrem Grabstein waren nur die Zutaten eingraviert. "Ich musste den Vorgang erraten, ohne wirklich zu wissen, was ein Spritz-Keks ist", erzählt sie dem "Guardian". Auf den TikTok-Beitrag wurde sogar die Enkelin der Verstobenen aufmerksam und nahm Kontakt zu Rosie Grant auf. "Sie liebte es, zu kochen", erfuhr die 33-Jährige. Und: "Ihr Rezept für Spritzgebäck hat sie zu Lebzeiten nie verraten." Erst nach dem Tod gab sie – zumindest die Zutaten – preis. Für die Bibliothekarin seien die Rezepte wie ein Geschenk. "Niemand von uns ist unsterblich und das ist doch eine schöne Art, die Erinnerung aufrechtzuerhalten", sagt sie im Interview mit "n-tv". Es sei "eine Möglichkeit, jemandem zu gedenken und sein Leben zu feiern", ergänzt sie.

Am populärsten von all den bisher geteilten Koch-Anleitungen ist das Rezept einer verstorbenen Frau aus Texas namens Beverly. Auf ihrem Grabstein wird behauptet, dass die Bestattete zu Lebzeiten den besten Hackbraten überhaupt machte. Das Rezept hat Rosie Grant bereits zum zweiten Mal probiert, nachdem die Community hilfreiche Tipps zur geschmacklichen Verbesserung gab. Das Feedback ihrer Zuschauer sei überwältigend, erzählt die 33-Jährige im n-tv-Interview. Die Familien der Verstorbenen, die sie immer wieder kontaktieren, seien unglaublich dankbar. Mit der Zeit "begann ich zu verstehen, wie wichtig Kochen für Menschen und für die Familiengeschichte ist", erzählt sie im "Guardian". Für viele dieser Menschen sei Kochen ein sehr wichtiger Teil ihres Familienlebens gewesen.

Rosie Grant will die Speisen ans Grab bringen

Das bestätigt auch Natalie Andrews, die Enkelin einer verstobenen Frau, die ein Rezept für Fudge hinterlassen hat. Die Süßigkeit habe ihre Oma zu Lebzeiten immer verschenkt: "Mit Essen zeigte sie ihre Liebe." Ihre Großmutter würde "es sehr herzerwärmend finden, dass ihr Fudge-Rezept weiterlebt", sagte Natalie Andrews der "Washington Post". Rosie Grants persönliches Lieblingsrezept stammt aus Israel. Es sind die Nussbrötchen einer Frau namens Ida Kleinmann. Die Angaben musste sie aus dem Hebräischen übersetzen. Während auf vielen Grabsteinen nur Zutaten aufgeführt sind, sei Kleinmanns Rezept ausführlicher gewesen, erinnert sie sich im "Guardian". Das habe die Umsetzung einfacher gemacht. "Es ist sehr teuer, Worte in einen Grabstein eingravieren zu lassen. Das muss der Grund dafür sein, dass viele Grabstein-Rezepte so spärlich sind."

Rosie Grants eigene Großmutter sei während der Pandemie verstorben, erzählt sie der "Washington Post". Wann immer sie eine Mahlzeit isst, die ihre Oma einst für sie zubereitet hat, "bringt mich das viel näher zu ihr". Besonders oft denke sie an einen gelben Kuchen, den es zu Geburtstagen gab. Das Gericht bringe starke Erinnerungen zurück, sagte sie dem "Guardian": "Es ist schön, über die Rezepte nachzudenken, die für andere Familien eine ähnliche Bedeutung haben." Obwohl sie Rezepte meist online findet, will sie all die Gräber persönlich besuchen "als Dankeschön an die Person, die mir und allen anderen dieses Geschenk gemacht hat". Auf TikTok teilt sie neben den Rezepten auch Videos, in denen sie die zubereiten Speisen an das jeweilige Grab mitnimmt und dort verspeist. Für eine Verstorbene namens Annabelle Gunderson, die der Welt eine Anleitung für Snickerdoodle-Kekse hinterlassen hat, legte sie sogar über 800 Kilometer zurück.

TikTok-Projekte lehrte ihr das Kochen – und einen neue Sicht auf den Tod

"Ich habe es auch genossen, das Leben der Frauen hinter den Rezepten zu erforschen. Es gab einen Holocaust-Überlebenden, jemand, der sein ganzes Leben lang bei der Post gearbeitet hat, und eine Frau in Alaska, die das Logo der Schlagsahne-Creme 'Cool Whip' in ihren Grabstein eingravieren ließ", erzählt sie dem "Guardian". Dank ihres Projektes habe sie nicht nur kochen gelernt, sondern auch eine neue Sichtweise auf den Tod auf den gewonnen. Es sei für sie eine Möglichkeit, sich mit dem schwierigen Thema auseinanderzusetzen. "Wir möchten nicht über unsere eigene Sterblichkeit nachdenken, aber wenn wir über Essen und Gedenken sprechen, wird es ein wenig schmackhafter", sagte sie der "Washington Post".

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Die Beerdigung eines geliebten Menschen sei ein düsteres Ereignis, die Gräber aber auch "ein Spiegelbild der Schönheit ihres Lebens, der schönen Erinnerungen, des gemeinsamen Essens oder gemeinsamen Kochens", meint die 33-Jährige im Gespräch mit dem Kanadischen Rundfunk. Die Rezept-Inschriften machen angesichts der Verbindung zwischen Essen und Tod tatsächlich sehr viel Sinn, so Loren Rhoads, die Dozent für Friedhofsgeschichte. In Zeiten der Traurigkeit und Trauer diene Essen als Trost und Quelle der Nostalgie. Die Vorstellung, für sich selbst einen Grabstein auszuwählen, mache Rosie Grant Angst: "Ich weiß noch nicht, wie ich möchte, dass die Welt sich an mich erinnert", sagt sie dem "Guardian". Für die Frauen schienen Rezepte die perfekte Möglichkeit, um mit ihren Familien nach dem Tod in Kontakt zu bleiben. "Und sie wollten es mit allen teilen, was wunderschön ist."

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