"Ich stehe auf der krassesten Bühne, die man sich vorstellen kann", sagt Petra Berghaus. Die freiberufliche Musikerin und Grafikerin aus Solingen hat sich auf das Singen bei Trauerfeiern spezialisiert. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Abschied musikalisch so persönlich wie möglich zu gestalten. Durch ihren Gesang will sie den Angehörigen Trost und Kraft spenden, "denn Musik ist die Sprache unserer Seele, die jeder verstehen und fühlen kann." Im Gespräch mit dem stern erzählt sie vom Tod ihrer Mutter, vom Schmerz und der Liebe einer Trauerfeier und wieso sie die Menschen ermutigen möchte, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen.
Der neue stern-Podcast "Die Suche nach dem guten Tod" befasst sich ebenfalls mit dem Thema Sterben. Hören Sie hier alle bisherigen Folgen:
Sie singen hauptsächlich auf Beerdigungen. Ist das nicht unglaublich traurig?
Eigentlich ist das gar nicht so. Ich habe immer schon mit eigenem Programm auf Hochzeiten und Geburtstagen gesungen. Aber ehrlich gesagt ist das Singen auf einer Trauerfeier viel schöner und bedeutungsvoller. Die Musik ist oft noch stärker als die Rede, die gehalten wird, weil sie direkt ins Herz geht. Man gibt den Leuten so unglaublich viel, dass ich immer mit einem Herzen voller Liebe nach Hause fahre. Ich habe glänzende Augen und bin glücklich, diese Momente miterleben zu dürfen. Das ist ein großes Vertrauen, das die Menschen mir schenken.
Wie kam es, dass Sie sich ausgerechnet auf Trauerfeiern spezialisiert haben?
Meine Mutter hat vor zweieinhalb Jahren überraschend eine schwere Krebsdiagnose erhalten. Fünf Wochen später ist sie gestorben. Das ist so ein kurzer Zeitraum, aber er hat mein Leben komplett verändert. Wir haben einen Platz für sie im Hospiz bekommen, dort habe ich viel gesungen. Dabei habe ich gemerkt, dass man in dem Hospiz keine Angst haben muss, dass es ein wundervoller Ort ist. Kurz vor ihrem Tod hat meine Mutter mich gefragt, ob ich auf ihrer Beerdigung singen würde. Ich habe es ihr sofort versprochen, aber als der Tag kam, habe ich gedacht, dass ich das niemals schaffen würde. Dann ging es aber doch. Ich bin in die Kirche rein und es war sofort ein Gefühl von Wärme da. Ich habe auch meine Mutter in dem Raum gespürt. Dann habe ich das Lied gesungen und es war so schön, ich habe keine Worte dafür. Das Feedback war überwältigend. Alle haben gesagt, es hat ihnen so viel Kraft gegeben. Das war der Startschuss. Nach ein paar Monaten hatte sich das Ganze verselbstständigt. Die Anfragen wurden mehr und mehr.

Meist sind Beerdigungen von Trauer und Schmerz gezeichnet. Wie schaffen Sie es, sich nicht von diesen Emotionen mitreißen zu lassen?
Es nimmt mich schon mit, weil ich die Menschen intensiv anschaue beim Singen. Ich reiße mein Herz auf und lasse alle Emotionen rein. Der Moment des Abschieds geht mir deshalb immer nahe. Nie vergessen werde ich die Trauerfeiern, wo wir Kinder verabschiedet haben. Da hadert man mit dem Schicksal und fragt sich, wieso so ein junger Mensch die Erde verlassen muss. Einmal habe ich die Beerdigung eines neunjährigen Jungen begleitet. Da sieht man die Eltern und das Geschwisterkind, die alle fürchterlich weinen. Ich spüre den Schmerz und merke, wie auch bei mir die Tränen laufen, aber ich kann trotzdem singen.
Und dennoch kommen Sie mit dem "Herz voller Liebe" nach Hause?
Ich habe ein kleines Ritual. Ich habe immer eine schwarze Jacke an, die meiner Mutter gehört hat. Damit habe ich immer das Gefühl, dass sie bei mir ist. Wenn wir dann den Menschen beerdigt haben und ich in mein Auto steige, ziehe ich die Jacke aus. Es ist wie ein Trauer-Umhang, den ich ablege und dann bleibt nur Liebe zurück. Schmerz, Trauer und Liebe liegen eng beinander.
Vor dem Auftritt steht die Organisation. Wie erleben Sie den ersten Kontakt mit den trauenden Angehörigen?
Wenn die Leute mich buchen wollen, rufen sie direkt an. Beim ersten Kontakt merken sie dann, ob es passt, ob sie zu mir eine Verbindung aufbauen können. Im Gespräch reden wir nicht nur über Musik, sondern auch über den Tod. Ich frage aktiv nach, erkundige mich über den Verstorbenen. Ich will die Angehörigen motivieren, sich zu erinnern. Ich frage sie, was der Verstorbenen gerne gehört hat, welche Lieder sie zusammen gerne angehört oder welche Songs sie miteinander verbunden haben. So kommen sie nochmal in ihre eigene Geschichte rein.

Es gibt in Deutschland nicht so viele Trauersängerinnen, deshalb rufen Leute auch von weiter her an. Ich komme aus NRW, bin aber auch schon nach Berlin oder Hamburg gefahren. Den Leuten ist es so wichtig, dass sie Zusatzkosten wie die Fahrt bezahlen. In Hamburg war zum Beispiel ein Mann, der wollte nur ein Lied für seine Frau. Sie hatte mich mal im Fernsehen gesehen und wollte unbedingt, dass ich auf ihrer Beerdigung singe.
Gibt es bestimmte Lieder, die besonders oft gewünscht werden?
Es gibt tatsächlich eine Top Ten, "Somewhere over the Rainbow" gehört zum Beispiel dazu. Aber ich will die Leute dazu bewegen, ihre eigenen Songs zu finden. Ich singe alles, deshalb dürfen die Leute sich auch alles wünschen. Ganz besonders ist es, wenn der Verstorbene mich vorher kennenlernen und die Lieder selbst aussuchen kann. Im Hospiz war ein Mann, der wollte seine Beisetzung humorvoll gestalten. Für den Anfang der Feier wollte er "Die Capri-Fischer", einen alten Schlager. Als ich das Lied gesungen habe, hatten alle ein Lächeln im Gesicht, weil sie wussten, wie viel Spaß er gehabt hätte. Meistens singe ich drei Songs. Zu Beginn, während der Rede und am Ende, am liebsten draußen am Grab, während der Sarg oder die Urne beigesetzt wird. Das gibt allen ein Gefühl von Hoffnung und Freiheit.
Gibt es eine Beerdigung, die sich Ihnen besonders ins Gedächtnis gebrannt hat?
Ich wurde einmal von dem Rocker-Club "Bandidos" gebucht. Wenn einer von ihnen stirbt, kommen alle mit ihren Motorrädern und in ihrer Kluft. Und ich habe da gesungen, das war total verrückt. Gewünscht hatten sie sich von Michael Schulte "You’ll never walk alone". Das werde ich nie vergessen. Die haben alle geweint und da merkt man: Der Tod verbindet uns Menschen, egal woher wir kommen. Wir werden es alle erleben und das finde ich so schön im Angesicht des Abschiedes, dass er uns alle vereint.
Wie viele Beerdigungen haben Sie inzwischen musikalisch begleitet?
Mittlerweile sind es mehr als 300. Es gab Hochphasen, wo ich in einer Woche sieben Beerdigungen begleitet habe – wirklich krass. Bei den ersten Auftritten war da noch ein beklemmendes Gefühl, aber inzwischen freue ich mich. Ich merke auch, dass eine gewisse Offenheit beim Thema Tod entstanden ist. Das war vor zwei Jahren noch nicht der Fall. Ich glaube, dass da gerade ein Wandel in der Gesellschaft stattfindet.
Wie hat die Tätigkeit als Trauersängerin Ihren Blick auf den Tod verändert?
Ich habe das Gefühl, mit jeder Trauerfeier meinem eigenen Tod näher zu kommen. Ich habe Frieden damit geschlossen und keine Angst mehr vor dem Tod. Aber auch mein Blick auf das Leben hat sich geändert. Seitdem ich mir klargemacht habe, dass mein Leben endlich ist, bin ich viel dankbarer und glücklicher geworden.

Vergangenes Jahr sind Sie mit Ihrer Geschichte bei "The Voice of Germany" aufgetreten.
Meine Geschichte hat dort auch viele Menschen berührt. Zuerst hatte ich Bedenken, das Thema Tod in die Öffentlichkeit zu bringen. Ich wollte es nicht für mich machen, sondern dass die Menschen erfahren, wie beglückend es ist, einen Abschied zu gestalten, der so persönlich ist, mit deiner Musik.
Nach ihrem Auftritt gab es auch Kritik. Manche Zuschauer haben gemeint, man solle Tod und Abschied nicht in der Abendunterhaltung bringen.
Ich denke, die Menschen, die sowas schreiben, haben sich angegriffen gefühlt, weil ich sie mit ihrer Angst konfrontiert habe. Ich bin eingedrungen in ihre Gefühlswelt und das hat sie wütend gemacht. Das kann ich verstehen, mir ging es vorher auch so. Wenn man keine Berührung mit dem Tod hat, schaut man da nicht gerne hin. Ich möchte ihnen aber sagen, dass sie sich nicht fürchten brauchen und sich dem Thema nähern dürfen. Je früher wir den Tod in unser Leben lassen, desto weniger Angst haben wir.
"Noch mal leben": Bewegende Portrait-Fotos zeigen Sterbende vor und nach dem Tod

57 Jahre
Geboren am 19. Januar 1947
Erstes Porträt am 15. Januar 2004
Gestorben am 4. Februar 2004
Hamburg Leuchtfeuer Hospiz
Johannes Oerding gab damals zu, dass er Anfragen für Trauerfeiern immer abgelehnt habe, weil diese ihn emotional zu sehr mitnehmen würden. Was gibt Ihnen die Kraft, in diesen schweren Augenblicken zu singen?
Johannes hat mir sogar nochmal auf Instagram geschrieben und gesagt, dass mein Auftritt für ihn eine Bereicherung war und er viel Kraft mitgenommen hat. Das höre ich oft. Dass ich den Menschen durch mein Wesen und meine Lieder Kraft gebe. Aus der Dankbarkeit und Liebe, die ich zurückbekomme, schöpfe ich wiederum Kraft. Und auch aus dem Gefühl, dass meine Mutter bei mir ist. Ich spüre, dass sie mir beim Singen über die Schulter schaut und sich freut, dass ich so eine tolle Aufgabe gefunden habe.
Was ist die wertvollste Lektion, die Ihre Mutter Ihnen mit auf den Weg gegeben hat?
Sie hat immer gesagt: "Petra, du kannst nichts aufschieben." Sie hat mir immer geraten, meine Fähigkeiten ins Licht zu stellen. Lange Jahre habe ich mich nicht getraut, mich auf die Bühne zu stellen und zu singen. Aber sie hat mich ermutigt, die Angst zu überwinden. Und jetzt stehe ich auf der krassesten Bühne, die man sich vorstellen kann. Ich habe gelernt: Es geht nicht um Perfektion, sondern um Emotion.
Der neue stern-Podcast "Die Suche nach dem guten Tod"
Das Thema Sterben wird auch im neuen stern-Podcast "Die Suche nach dem guten Tod" behandelt. In sieben Folgen begibt sich Host Lukas Sam Schreiber auf diese Suche für seine Mutter Claudia, die an Demenz erkrankt ist. Der Podcast "Die Suche nach dem guten Tod" erscheint jeden Donnerstag bei stern.de sowie bei AudioNow, Spotify, Apple Podcasts, Amazon Music und auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Hier erfahren Sie in einer Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie Sie Podcasts hören und abonnieren können.