"Icke muss vor Jericht" Erpressung aus Langeweile

  • von Uta Eisenhardt
Es sollte sein großer Coup werden: 100.000 Menschen wollte Manfred Urtmann überzeugen, für den Empfang von Privatsendern Gebühren an ihn zu zahlen. Mit dem Millionengewinn wollte er große Welt spielen. Doch der Plan flog auf, und nun stand Urtmann vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten. Teil 2 der stern.de-Kolumne "Icke muss vor Jericht".

Kurz vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 gebar Manfred Urtmann* eine Idee. Der ganz große Coup schwebte ihm vor, etwas Einmaliges sollte es sein. Wie wäre es, wenn man den Leuten verklickern würde, sie hätten von nun an eine Gebühr für den Satellitenempfang privater Fernsehsender zu zahlen? Ihm schien es eine gute Idee zu sein, war es aber nicht. Jetzt, zwei Jahre später, wirft der Staatsanwalt dem seriös wirkenden Herrn mit der ergrauten Halbglatze und dem kurzen Bart gewerbsmäßige Erpressung vor.

Scheinbar ruhig sitzt der 60-Jährige auf seinem Stuhl in einem Saal des Amtsgericht Berlin-Tiergarten, mit übergeschlagenem Bein und im Schoß gefalteten Händen. Nur am Anfang, als er seinen Namen nennen soll und "Manfred Jürgen Manfred" sagt, schimmert ein wenig von seiner Aufregung durch. Sein Verteidiger sagt, es sei Urtmann unangenehm, über seine Tat zu berichten und will deshalb ohne Zuschauer verhandeln. Doch die Richterin lehnt ab.

Er sei damals neben der Spur gewesen, sagt der Angeklagte. Kurz vor der Unkündbarkeit hatte er seinen Job bei einer Versicherung verloren und seine Frau ihn verlassen, weil sie seine Antriebsarmut nicht mehr aushielt. Hartz IV war nicht mehr weit. Er hatte damals viel Zeit, in der ihm die abstrusesten Gedanken durch den Kopf gingen. So dachte er über Gebühren nach, die für alles und überall verlangt werden, sogar für die Anfertigung eines Personalausweises: "Dabei will doch der Staat, dass ich einen Ausweis habe", sagt Urtmann. Vielleicht, so überlegte er damals, gibt es da noch eine unentdeckte Lücke? So kam er auf jenen Einfall, der ihn schließlich auf die Anklagebank brachte.

Er schuftete bis zu 16 Stunden täglich

Er nahm sich 50.000 Euro, die er als Abfindung von seinem letzten Arbeitgeber bekommen hatte und gründete die Eurosat Service GmbH. Monatelang werkelte er an seinem Plan, kaufte einen hochwertigen Drucker, eine Kuvertiermaschine und Zehntausende Serien-Briefumschläge. Bis zu 16 Stunden täglich schuftete er in seinem kleinen, billigen Büro. "Ich befand mich im Rausch", sagt Urtmann vor Gericht.

Er entwarf Firmenlogo und Briefpapier und erstellte einen Internet-Auftritt, in dem er die privaten Sendeanstalten per Logo zu seinen Partnern erklärte. Dann besorgte er sich eine Adressen-CD, druckte und kuvertierte insgesamt 93.000 Briefe. Drei Wochen vor dem Start der Fußball-Weltmeisterschaft traten diese ihre Reise von Berlin nach Baden-Württemberg an. Bewusst hatte Urtmann sich für eine räumliche Distanz zu seinen potentiellen Opfern entschieden: Der Erpresser fürchtete die Rache der Erpressten.

"Ich konnte nicht einmal die Anwälte herausnehmen"

Ebenso absichtlich wählte er Adressen aus kleineren Orten, "weil dort die Vernetzung unwahrscheinlicher ist als in größeren Orten", sagt der Angeklagte. "Ich will nicht sagen, dass die Hinterwäldler sind, aber die haben doch nicht so das Städtische im Erkennen." Außer der Adresse wusste er nichts über seine potentiellen Opfer - weder ob sie ihr Fernsehprogramm überhaupt via Satellit empfangen, noch ihren Beruf. "Ich konnte nicht einmal die Anwälte herausnehmen", sagt Urtmann.

"Turnus-Rechnung" prangte als Überschrift auf seinem Schreiben: Darin teilte Urtmann dem Empfänger mit, der Rundfunkrat habe vor fünf Tagen den privaten Sendeanstalten das Recht eingeräumt, für den Satellitenempfang eine Gebühr zu erheben. Schuld seien die sinkenden Werbeeinnahmen. Die neue Gebühr betrage pro Jahr 78 Euro und sei innerhalb von zwei Wochen auf das Konto der Eurosat Service GmbH einzuzahlen. Andernfalls gäbe es physikalische Möglichkeiten, den Empfang der privaten Sender zu beenden. "Leider lässt sich dabei nicht vermeiden, dass auch der Empfang von ARD und ZDF davon betroffen sind", entschuldigte sich Urtmann im letzten Satz seines Briefes, auf dem er wahrheitsgemäß seinen Namen und den seiner Firma nebst Handelsregisternummer angab.

Uta Eisenhardt

Uta Eisenhardt ist Berlinerin in dritter Generation. Seit fünf Jahren ist sie Gerichtsreporterin und schreibt für stern, "Spiegel", "Zeit", "Berliner Zeitung", "Tagesspiegel" und die "Taz". In der neuen stern.de-Kolumne "Icke muss vor Jericht" berichtet sie aus dem Berliner Amtsgericht, einem der größten Deutschlands. Jede Woche schreibt Eisenhardt über einen Prozess mit dem gewissen Etwas: manchmal traurig, manchmal kurios - immer spannend.

93.000 Briefe trafen in March, Gottenheim, Bötzingen, Eichstetten am Königsstuhl und weiteren süddeutschen Orten ein und sorgten dort für Aufruhr. Empört wandten sich die Fernsehgucker an die privaten Sender, manche gingen auch gleich zur Polizei. Schon wenige Tage nachdem die Briefe ihre Nord-Süd-Reise angetreten hatten, wurde Urtmanns Konto gesperrt und seine Wohnung durchsucht. Dabei fielen den Kriminalbeamten auch Berechnungen in die Hände, die der Erpresser über seinen möglichen finanziellen Erfolg angestellt hatte. Wenn von den Angeschriebenen etwa zwei Drittel aus Angst vor einer empfangsgestörten WM zahlen würden, könnten sich auf seinem Konto bald vier, fünf Millionen stapeln, so seine Milchbuben-Rechnung. Doch die Erfolgsquote betrug gerade einmal 0,1 Prozent - 100 Menschen zahlten die neue Gebühr.

Was wollte Urtmann überhaupt erreichen? Wenn es gut gegangen wäre, hätte er sich mit dem Geld in die Schweiz absetzen wollen. "Nummernkonto eröffnen, ins VIP-Leben eintauchen, Geld ausgeben - wie sich das Klein-Fritzchen so vorstellt", sagt der Angeklagte. Wenn es nicht gut gegangen wäre, hätte er eben ein paar Jahre Gefängnis erlebt, um dann als rentenberechtigter Bürger in die Freiheit entlassen zu werden. "Es war mir egal", sagt der gescheiterte Erpresser. "Das klingt widersprüchlich, aber Geld war mir noch nie wichtig." Dann fügt er hinzu: "Mir war langweilig, ich befand mich in einer depressiven Phase, ich wollte vor allem Aufmerksamkeit."

Midlife-Crisis durch Entlassung ausgelöst

Diese Einschätzung teilt er mit der psychiatrischen Gutachterin. Die hatte das Gericht bestellt, um zu klären, ob zu der verrückten Tat auch ein verrückter Täter gehört. In den Augen der Gutachterin reagierte Urtmann jedoch nur auf eine Midlife-Crisis, die durch seine Entlassung ausgelöst wurde.

25 Jahre habe er als bei verschiedenen Versicherungen gearbeitet, sagt der Angeklagte. Dann sei er endlich Büroleiter geworden und habe sämtliche Schäden eines großen Autoverleihers reguliert. "Da fallen ständig Betrügereien an, wenn Mieter ihre privaten Fahrzeuge durch Leihautos beschädigen lassen." Damals musste Urtmann oft vor Gericht aussagen, als Zeuge der Anklage.

Irgendwann halste er sich ein zusätzliches Dezernat auf. "Da habe ich mich übernommen." Er habe zu wenig delegiert und Führungsqualitäten vermissen lassen. Kurz darauf war er die Büroleitung los. Mit seiner Nachfolgerin verstand er sich nicht, außerdem bemängelte ein Großkunde seine Arbeitsqualität. "So ist alles langsam weggebröselt", sagt der arbeitslose Versicherungskaufmann. Als seine Vorgesetzten anlässlich einer Revision bei ihm Fehlregulierungen entdeckten, hagelte es Abmahnungen. Kurz vor seinem 55. Geburtstag wurde er entlassen.

Dies bedeutete eine tiefe Kränkung für den Mann, dem die Gutachterin eine "narzistisch akzentuierte Persönlichkeit" bescheinigt. "Die haben immer das Gefühl, sie müssten etwas Besonderes tun, damit sie geliebt werden". Die erfahrene Forensikerin glaubt: "Herr Urtmann wäre wahrscheinlich unglücklich geworden, wenn die Tat nicht entdeckt worden wäre", denn sein skurriler Plan sei von einem "Euch-zeig-ich's"-Gedanken angetrieben worden. Sie hält Urtmann für schuldfähig.

Sein Scheitern, sein Geständnis und das leere Vorstrafenregister werden ihm vom Staatsanwalt zugute gehalten. Er fordert zwei Jahre Haft auf Bewährung und mahnt den Angeklagten: "Er muss seinen Ärger über gesellschaftliche Missstände in Zukunft auf andere Weise lösen."

Eine öffentliche Selbstverbrennung?

Urtmanns Verteidiger glaubt noch immer an die These vom verrückten Täter: "Was er gemacht hat, ist eine öffentliche Selbstverbrennung", sagt der Anwalt. Weil niemandem geschadet wurde und "jeder vernünftige Mensch den Scherzcharakter der Aufforderung erkannt habe", sollte sein Mandant höchstens mit einem Jahr Haft bestraft werden.

Das Gericht entscheidet auf 21 Monate Haft zur Bewährung. Mit dieser Strafe werden einhundert Fälle gewerbsmäßiger Erpressung geahndet. Außerdem schlagen stellvertretend für die 93.000 versandten Briefe noch weitere einhundert versuchte Erpressungsfälle zu Buche.

Zwei Jahre lang darf sich Urtmann nichts zu Schulden kommen lassen. Hoffentlich bewahrt ihn seine neue Freundin vor einer weiteren "Jetzt-mache-ich-mal-was"-Aktion, denn die Lebenssituation des Verurteilten hat sich kaum verbessert: Rund 23.000 Euro Schulden drücken ihn, darunter das Porto für seine Erpresserbriefe. Außerdem plant seine Ex-Frau gerade den Umzug in die Wohnung, in der er seit mehr als 30 Jahren lebt. Sie hat ihm bereits gekündigt.

* Name geändert

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