"Strasshof an der Nordbahn in Österreich hat ein berühmtes Eisenbahn-Museum, ein paar Gasthäuser und eine dunkle Vergangenheit. In einem brutalen Konzentrationslager hat Adolf Eichmann der Chef-Logistiker des Nazi-Holocaust 1944 21.000 ungarische Juden inhaftiert". So beginnt nicht etwa ein Wälzer über die Nazi-Vergangenheit einer kleinen österreichischen Stadt, sondern das erste Buch über das Entführungsopfer Natascha Kampusch. Schon Tage vor dem Verkaufsstart von "Das Kind im Keller- Die Natascha Kampusch Story" am 30. November hatte die britische Zeitung "Times" in ihrer Online-Ausgabe Teile der Geschichte zweier britischer Autoren veröffentlicht.
Das Kampusch-Lager ging sofort auf die Barrikaden. Allen Autoren und Verlagen wurde mit Strafverfolgung gedroht, die in Büchern über die heute 18-jährige Natascha Kampusch unautorisiert über deren achteinhalbjährige Gefangenschaft bei ihrem Entführer und ihre Flucht vor drei Monaten berichteten. Schließlich habe die junge Frau mehrfach betont, dass sie nicht wolle, dass über sie und ihre Beziehung zu dem Kidnapper geschrieben werde.
Deutscher Verlag sagt Veröffentlichung ab
Nun ist Kampuschs Anwalt, Gerald Ganzger, zurückgerudert. Gegen das in Großbritannien veröffentlichte Buch solle zunächst keine rechtlichen Maßnahmen eingeleitet werden. Voraussetzung allerdings sei, dass das Buch in der Alpenrepublik nicht verbreitet werde. Das Verlagshaus "Hodder&Stoughton" teilte mit, es sei nicht geplant, dass das Buch außerhalb Großbritanniens erscheine. Dem Münchner Pendo Verlag wurde zwar angeboten, eine deutsche Übersetzung des Buches zu veröffentlichen, sagte ein Sprecher zu stern.de. Doch angesichts der Klageandrohung der Kampusch-Anwälte habe der Verlag davon abgesehen, sagte der Sprecher. Auch inhaltlich habe man "das eine oder andere bearbeiten wollen", was aber eine schnelle Veröffentlichung verhindert hätte. Zudem habe der Verlag Zweifel an einem Erfolg des Buches gehabt.
Inzwischen sei das umstrittene Buch auch bei dem Internet-Buchhändler Amazon nicht mehr erhältlich, sagte Anwalt Ganzger. Man werde man zunächst weiter darauf achten, wie der Verkauf des Buchs laufe. Bei 500 oder 2000 verkauften Exemplaren werde man keinen Riesen-Prozess starten und dem Werk zusätzliche Werbung verschaffen, sagte der Jurist der Nachrichtenagentur APA. Gegen die Vorabdrucke des Buchs auf der Homepage der "Times online" werde jedoch eine Klage nach dem österreichischen Mediengesetz vorbereitet.
Mißbrauch in der Familie
Kein Wunder, denn bereits der Vorabdruck enthält einige der brisanten Passagen: So etwa stellen die beiden Autoren - die von sich behaupten, seit dem Verschwinden von Natascha im Jahre 1998 den Fall verfolgt zu haben - Verbindungen zwischen dem Entführer Wolfgang Priklopil und Nataschas Eltern her. Sie zitieren unter anderem die ehemalige Nachbarin Anneliese Glaser: "Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie (Nataschas Mutter, Anm. d. Red) Priklopil, den Entführer, kannte."
Zudem spekulieren die Autoren über die dunkle Vergangenheit in der Kampusch-Familie. So schreiben die Times-Journalisten Michael Leidig und Allan Hill, dass die Polizei kurz nach Natascha Verschwinden im Jahre 1998 vier Farbfotos des Mädchens aus früheren Kindertagen bekommen haben soll. Darauf sei Natascha fast nackt abgebildet und sehe sehr unglücklich aus. Die Ermittler hätten jedoch nichts Anrüchiges an diesen Fotos entdeckt. Um ihre These von einer unglücklichen Kindheit Nataschas zu unterstreichen, zitieren die Autoren auch Max Edelbacher, den damaligen Leiter der "Task Force Natascha". Laut Edelbacher wurde Natascha im Alter von zehn Jahren vom Liebhaber ihrer Mutter missbraucht. Nachbarin Glaser erinnert sich zudem daran, dass die weinende Natascha nach einem heftigen Streit mit ihrer Mutter mit einem Handabdruck auf der Wange in ihrem Geschäft erschienen ist
Die Autoren folgern aus diesen Angaben und Aussagen von oft nicht namentlich genannten Quellen, dass Nataschas Leben vor ihrem Verschwinden "nicht rosig war". Sie werfen deshalb die Fragen auf: War das Verlies, in dem Priklopil sie gefangen hielt, für Natascha ein "Ort zum Wohlfühlen", eine "Rückzugsmöglichkeit" aus einem zerrütteten Elternhaus? Ist Natascha womöglich freiwillig bei ihrem Entführer Wolfgang Priklopil geblieben?
In einigen Interviews mit österreichischen Medien zeigte sich Kampusch-Anwalt Ganzger entrüstet angesichts dieser Darstellungen. "Für mich strotzen diese Kapitel vor Ungenauigkeiten. Das ist ein typischer Schnellschuss, ein schludriges fehlerhaftes Machwerk", sagte er dem "Kurier".
Weihnachten im Kreise der Familie
Medienberichten zufolge lebt Natascha inzwischen allein in einer kleinen Mietwohung in Wien. Kampusch dränge nicht in die Öffentlichkeit und wolle keine Party-Berühmtheit werden, sagte ihr Anwalt. "Sie will nicht irgendwo angehimmelt oder bewundert werden - sie will ganz einfach ihre Ruhe haben und in Ruhe ihr neues Leben organisieren."
Kampusch wird weiter psychologisch betreut. Die 18-Jährige freut sich nun auf das erste Weihnachtsfest, das sie wieder im Kreise ihrer Familie feiern kann. Sie werde die Feiertage mit ihren Eltern und ihrer Großmutter verbringen, sagte Kampusch.