Berlin-Zehlendorf am Donnerstag, 27. Februar 1975: Berlins 52-jähriger CDU-Vorsitzender Peter Lorenz verabschiedet sich gegen 9 Uhr von seiner Frau Marianne mit einem kurzen "Bis heute Abend" und fährt in seinem schwarzen Dienstwagen, gesteuert von Fahrer Werner Sowa, in Richtung Innenstadt. Nach anderthalb Kilometern blockiert ein Lkw den Wagen, ein Pkw rammt ihn. Sowa, der aussteigt, wird niedergeschlagen. Vermummte Gestalten zerren Lorenz aus dem Auto und stoßen ihn in stoßen ihn in ein anderes, das sofort losrast. Der um sich schlagende Lorenz wird mit einer Spritze betäubt.
So begann die Lorenz-Entführung, die erste dieser Art in der Bundesrepublik. Sie stellte die Spitzen des Staates vor neue, grundsätzliche Entscheidungen: Muss oder soll der Anspruch des Staates auf Ahndung von Straftaten, muss die Staatsraison schlechthin, durchgesetzt werden, auch wenn damit das Leben eines einzelnen gefährdet, ja mit seinem Tode gedroht wird? Im Falle Lorenz fiel die Entscheidung für den einzelnen, der Staat verzichtete auf seinen Anspruch. Die Forderungen der Entführer, die sich "Bewegung 2. Juni" nannten, wurden erfüllt.
Entführer schicken Foto von Peter Lorenz
Die hatten bereits am Tage nach der Entführung in einem Schreiben an das Berliner dpa-Büro ihre Bedingungen genannt: Sechs in Gefängnissen sitzende Gesinnungsgenossen sollen binnen drei Tagen freigelassen und, begleitet von Pfarrer Heinrich Albertz, einem früheren Regierenden Bürgermeister von Berlin, in ein nicht näher bezeichnetes Land ausgeflogen werden. Neben den Forderungen der Kidnapper enthielt der Brief ein Foto, das um die Welt ging. Es zeigt den Entführten mit einem Schild um den Hals: "Peter Lorenz, Gefangener der Bewegung 2. Juni".
Berlin bildete einen Krisenstab und brach den Kampf um die Stimmen für eine drei Tage später anberaumte Wahl zum Abgeordnetenhause ab. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) gab die Marschroute aus: "Wir müssen Peter Lorenz freibekommen. Dem haben sich alle anderen Erwägungen unterzuordnen." Am Freitagabend trat in Bonn der große Krisenstab unter Vorsitz von Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) zusammen. Bundesregierung und führende Vertreter der Opposition entschlossen sich, auf die Bedingungen der Entführer einzugehen.
Live-Übertragung vom Triumph der Entführer
Die "Bewegung 2. Juni" hatte die Freilassung der inhaftierten Horst Mahler, Verena Becker, Gabriele Kröcher-Tiedemann, Ingrid Siepmann, Rolf Heissler und Rolf Pohle verlangt, und am Montag war live im Fernsehen zu sehen, wie fünf von ihnen neben Albertz auf dem Rhein-Main-Flughafen winkend ein Flugzeug bestiegen und mit unbekanntem Ziel abflogen. Mahler hatte sich geweigert, den Flug ins Ungewisse anzutreten.
Die Lufthansa-Boeing "Afrika" landete nach über zehnstündigem Irrflug im Südjemen, dessen Regierung die Freigepressten auf Drängen Bonns aufnahm. Albertz kehrte am Dienstag mit einer Botschaft der Freigelassenen nach Berlin zurück und verlas sie im Fernsehen des Sender Freies Berlin, das dafür das Programm unterbrach. Die Zeile "So ein Tag, so wunderschön wie heute" war das Signal für die Entführer, Lorenz freizulassen. Um Mitternacht meldete er sich aus einer Telefonzelle in einem Park in Berlin-Wilmersdorf bei seiner Frau.
Vier Wochen später ließen die Entführer wieder von sich hören. In mehreren Berliner Bezirken wurden in Hausfluren und Telefonzellen Flugblätter gefunden, auf denen sie das Geschehen aus ihrer Sicht darstellten. "Wir schlagen nicht wild um uns, sondern schätzen unsere Möglichkeiten realistisch ein", schrieben sie und verspotteten obendrein mit einem Lorenz-Lied die Sicherheitsbehörden: "An einem schönen Donnerstag, es hatte gerade getaut, da wurde Peter Lorenz aus Zehlendorf geklaut..." Die so geschmähte Polizei fasste innerhalb eines Jahres 15 der Beteiligung an der Entführung Verdächtige. Im Oktober 1980 wurden fünf von ihnen zu hohen Haftstrafen verurteilt.
Schon unmittelbar nach dem Ende der Entführung setzte in der Bundesrepublik eine offene Diskussion darüber ein, ob die Entscheidung richtig gewesen sei, das Leben von Lorenz über die Staatsraison zu stellen. Am 6. März, einen Tag nachdem der CDU-Politiker freigelassen worden war, erklärte der Bonner Krisenstab, er sei "gemäß dem Notstandsparagraphen zu der Überzeugung gelangt, dass zum Schutz des konkreten Lebens die Beeinträchtigung des staatlichen Anspruchs auf Strafverfolgung und Strafvollstreckung habe in Kauf genommen werden dürfen".
Bundeskanzler Schmidt machte aber deutlich, dass der Fall Lorenz nicht als Richtschnur für ähnliche Situationen dienen könne. Künftig werde die Bundesregierung die Mittel des Rechtsstaates "mit aller Konsequenz und Härte einsetzen". Zweieinhalb Jahre später stand diese Situation vor ihm. Terroristen der Roten Armee Fraktion entführten Arbeitgeber-Präsident Hanns-Martin Schleyer und ermordeten ihn, als sie einsahen, dass sich der Staat nicht noch einmal erpressen lasse. Die führenden Köpfe der RAF, die freigepresst werden sollten, gaben sich daraufhin den Tod.
Peter Lorenz starb 65-jährig am 6. Dezember 1987.