7. Juni. Der zweite Gipfeltag. In Heiligendamm konferieren die acht Mächtigen der Welt. Draußen vorm Zaun versuchen die G8-Kritiker verbotenes Demo-Terrain zu erobern. Es ist der Tag des "Versteckspiels" mit den Polizisten, der Tag der Blockaden, der Tag, an dem Martin festgenommen wird. Er wird von der Polizei aufgegriffen, als er mit rund 150 anderen jungen Leuten in einem Waldstück bei Kühlungsborn unterwegs ist. Die Stimmung der Beamten ist gereizt. Mehrfach mussten sie gefährliche Barrikaden im kurvenreichen Waldstück von der Straße räumen. Ein Wunder, sagen sie, dass noch kein Unfall passiert ist. Als sie auf die Gruppe Jugendlicher treffen, fackeln sie nicht lange. Martin wird, wie die anderen, gefesselt und kommt in die Gefangenensammelstelle (Gesa) in der Industriestraße.
Martin erzählt: "Es war gegen 14 Uhr. Wir saßen oder lagen alle gefesselt auf dem nackten Betonboden. Innerhalb von einer Stunde füllte sich der Käfig immer mehr. Ab der 30. Person beschwerten wir uns, dass es zu voll sei und versuchten, uns vor den Eingang zu stellen. Doch die Polizisten drückten immer noch mehr Männer in den Käfig, bis wir schließlich genau 50 Personen waren. 'Da passt noch einer rein' war immer die Antwort. Wir kauerten wie die Tiere in dem viel zu vollen Käfig. Auch bei Toilettengängen wurden die Fesseln nicht gelöst. Erst um 18 Uhr kam eine neue Schicht, die die Fesseln entfernte. Schon zu Beginn der Festnahme und noch einmal bei der Aufnahme in der Gesa habe ich darum gebeten, telefonieren zu können und einen Rechtsanwalt sehen zu dürfen. Beides wurde mir versagt."
Hintergrund zu den Festnahmen
Zwei Monate nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm rollt eine Prozesslawine auf die Justiz in Mecklenburg-Vorpommern zu. Nach Angaben der Rostocker Staatsanwaltschaft sind etwa 1100 Verfahren bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft in Bearbeitung. Die meisten richten sich gegen G8-Kritiker. Hauptvorwürfe sind neben Landfriedensbruch und Körperverletzung auch der Verstoß gegen das Versammlungsgesetz, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Beleidigung. 43 Verfahren richten sich gegen Beamte. Dabei geht es nach Angaben des Sprechers der Rostocker Staatsanwaltschaft, Peter Lückemann, hauptsächlich um Freiheitsberaubung im Zusammenhang mit der Unterbringung in den Gefangenensammelstellen und Körperverletzung im Amt, wegen des "Enterns" eines Greenpeace-Bootes vor Kühlungsborn.
Wie viele der laufenden Verfahren letztlich vor Gericht landen werden, sei unklar, sagt Lückemann. An der Behörde sind acht Staatsanwälte nur mit der Bearbeitung der "G8-Fälle" beauftragt. Parallel dazu ermitteln Polizeibeamte seit dem 1. August in einer Sonderarbeitsgruppe "Folgemaßnahmen". Deren Aufgabe ist es, das während der Demonstrationen aufgenommene Video- und Bildmaterial auszuwerten. Mit dem Abschluss dieser Auswertung werde, so Lückemann, nicht vor November 2007 gerechnet. Danach könne es noch einmal bis zu neue 2000 Verfahren geben.
Bei der Rostocker Staatsanwaltschaft waren bis zum 9. August insgesamt 718 Verfahren registriert. Davon 67 gegen Unbekannt. Von den 718 Verfahren seien inzwischen 514 erledigt. In 91 Verfahren habe es einen Strafbefehl oder eine Anklage gegeben. In 173 Fällen wurden Bußgelder verhängt. Im Fall des Bremer Zivilpolizisten, der am 7. Juni bei einer Demo an der Doberaner Rennbahn als sogenannter "Agent Provocateur" enttarnt wurde, seien die Ermittlungen inzwischen wieder eingestellt worden. Es habe keinen hinreichenden Tatverdacht gegeben, so Lückemann. Demonstranten hatten behauptet, der Zivilpolizist habe zu Steinewürfen aufgerufen.
Kritik an Gefangenensammelstellen
Es sind Geschichten, wie diese, die die Anwälte des Republikanischen Anwaltsvereins (RAV) entrüsten. Noch sei die Bundesrepublik ein Rechtsstaat, in dem auch mutmaßlichen Tätern gesetzlich garantierte Rechte zustehen. Während des G8 seien diese Prinzipien unzählige Male ignoriert worden. Oftmals seien Menschen sogar ohne jede Rechtsgrundlage festgehalten worden.
1147 Verhaftungen und Ingewahrsamnahmen hat der Anwaltliche Notdienst in der Zeit vom 2. bis 7. Juni registriert. Davon sind 140 Personen nach Richterbeschluss in sogenannten Langzeitgewahrsam gekommen. In der Kritik der Verteidiger, Linker- und Menschenrechtsgruppen stehen vor allem die beiden Gefangenensammelstellen in Rostock. Bis zu sechs Tage seien Menschen in den jeweils etwa 25 Quadratmeter großen Käfigen unter zum Teil völlig inakzeptablen Bedingungen festgehalten worden.
Jüngster "Delinquent" war, nach Angaben des RAV, ein 3-jähriges Kleinkind, das am 5. Juni in einem Shuttle-Bus zur Demo am Flughafen Laage "festgesetzt" wurde. Nachdem der Mutter der Vorwurf gemacht wurde, sie habe sich im Bus vermummt, sollte auch das Kind in der Gesa in Rostock erkennungsdienstlich behandelt werden. "Erst als es immer wieder den Kopf wegdrehte, ließen die Beamten vom Fotografieren ab."
Vorwürfe gegen Polizei und Richter
Die Liste der Vorwürfe gegen die Polizei und einzelne Richter ist lang und soll nach dem Willen des RAV in einem Untersuchungsausschuss aufgearbeitet werden. So seien Festgenommenen beispielsweise Medikamente, Asthmasprays und Brillen abgenommen worden, mindestens drei Betroffene seien nach der Festnahme geschlagen, in hilflose Lage versetzt und mit dem Tod bedroht worden. Mehrere Frauen hätten sich bei Kontrollen vor männlichen Beamten ausziehen müssen.
Die Rostocker Anwältin Verina Speckin sagt: "Nur 125 bis 130 von insgesamt 1147 in Gewahrsam Genommenen haben einen Richter gesehen. Der Rest ist so entlassen worden. Das heißt doch offenbar, sie waren zu Unrecht festgehalten worden."
Die Hamburger Anwältin Karen Ullmann vertritt unter anderem einen Mandanten, der am 6. Juni in einem Roggenfeld bei Wittenbeck festgenommen und nach einem Zwischenaufenthalt in der Gesa Industriestraße am 7. Juni in die Justizvollzugsanstalt Bützow gebracht wurde. "Obwohl das Landgericht Rostock gefordert hatte, dass der Mann bis spätestens 8. Juni um 19.30 Uhr einem Richter vorgeführt werden müsse, anderenfalls aber freizulassen sei, blieb er bis zum 9. Juni elf Uhr in Haft. Ohne Vorführung." Außerdem habe ihr Mandant mehr als 20 Stunden weder Wasser noch Nahrung bekommen. Für Karen Ullmann ein Skandal, dem sie mit einer Strafanzeige gegen den zuständigen Polizeibeamten begegnen will: Wegen Freiheitsberaubung, Vollstreckung gegen Unschuldige, Körperverletzung und Beleidigung.
Juristische Folgen könnte in etlichen Fällen auch die Behinderung der anwaltlichen Tätigkeit selbst haben. Der Berliner Anwalt Dietmar Sasse etwa berichtet, er sei von Polizeibeamten 75 Meter über eine Straße geschubbst und geschlagen worden, als er zu einem Mandanten wollte, der in Hinterbollhagen festgehalten wurde. "Als ich mich als Anwalt ausweisen wollte, haben die einfach gesagt, halts Maul und mir einen Platzverweis erteilt." Sasse will Anzeige gegen die Beamten erstatten. Große Hoffnungen auf einen Erfolg macht er sich allerdings nicht, denn sein Vertrauen in den Rechtsstaat sei nach den Erlebnissen beim G8-Gipfel "gründlich erschüttert".
Innenminister: Anwälte wollten keine Dialog
Der für den Gesamt-Einsatz zuständige Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns, Lorenz Caffier (CDU) weist die Vorwürfe entschieden zurück. Ende Juni lässt er mitteilen: "Sofern es sich nicht nur um bloße interessensgesteuerte Gerüchte handelt, sondern tatsächliche Anhaltspunkte zur Einleitung von Verfahren geführt haben oder noch führen werden, wird eine sorgfältige Bearbeitung zugesichert. Den von Bündnis 90/Die Grünen angekündigten Klagen sehe man daher sehr gelassen entgegen." Im Übrigen sei der RAV während des Gipfels an einem konstruktiven Dialog nie interessiert gewesen, außerdem seien ständig wechselnde Personen im Namen des RAV aufgetreten.
Die Anwälte kontern ihrerseits: Dieses Verhalten zeige, "dass die Polizei nicht an einer Aufklärung der Vorkommnisse interessiert ist, sondern allein daran, ihre rechtswidrigen Standards bei Masseningewahrsamnahmen zu verteidigen und von Kritik an ihrem Verhalten abzulenken." Bei den von Innenminister Caffier verbreiteten "Falschmeldungen" müsse mittlerweile leider von einer "gezielten Desinformationskampagne gesprochen werden" so Rechtsanwältin Ullmann.