Der 20. Februar 2009 war ein kalter Wintertag, es lag noch ein wenig Schnee um die Farm in New Beaver im US-Bundesstaat Pennsylvania. Für Jordan Brown sei es "ein normaler Morgen" gewesen, wie der damals Elfjährige den Polizisten erzählte. Er war von seiner Schwester Jenessa geweckt worden, habe sich angezogen und sei nach unten gegangen. Bis Kenzie Marie Houk, seine 26-jährige und im achten Monat schwangere Stiefmutter, ihm sagte, er solle sich beeilen. Sonst würde er den Schulbus verpassen. Also rannten er und seine Halbschwester, die siebenjährige Jenessa los, zur Hintertür raus und die Einfahrt hinauf. Um 8.15 Uhr hätten sie das Haus verlassen, schildert Jordan selbst den Vormittag. Um 9 Uhr entdecken Baumarbeiter in der Eingangstür die weinende Adalynn, die vierjährige Halbschwester von Jordan. Ihre Mutter sei tot, behauptet das Kind. Die Arbeiter rufen den Notruf, doch die Sanitäter können nichts mehr ausrichten: Kenzie Marie Houk und ihr ungeborenes Kind sind tot. Die Polizei kommt, Vater Chris wird verständigt.
Was ist in den 45 Minuten geschehen? Die Polizisten des Pennsylvania State Police Office haben eine Theorie und verhören Jordan. Noch vor dem nächsten Sonnenaufgang, um kurz nach drei Uhr nachts, hämmern die Beamten an die Haustür der Browns, Jordan wird verhaftet. Er soll seine Stiefmutter aus Eifersucht erschossen haben. "Sie haben mich hinten in den Wagen gesetzt und fuhren mich zur Polizei. Und dann brachten sie mich direkt ins Bezirksgefängnis ", sagte Jordan Brown dem US-Sender ABC News.
Der Junge im Knast
Dann läuft die Justizmaschinerie an: Jordan landet im Lawrence-County-Gefängnis. Als Fahnungsfotos von ihm gemacht werden, weint er, erzählt Jordan. "Ich habe nicht verstanden, was passiert ist. Ich wusste nicht, wo ich war und was los war oder so ", sagt er. Die ersten Wochen sitzt er in einer Zelle im Erwachsenengefängnis.
Was er nicht weiß: Die Polizei hat eine Schrotflinte auf der Farm sichergestellt. Diese hatte der Junge von seinem Vater zu Weihnachten bekommen, weil die beiden häufig zusammen jagen gingen. Das ist nicht ungewöhnlich für diese ländliche Region, sagt ein Ermittler zu ABC News. "Es ist ziemlich normal, dass die meisten – vor allem junge Männer – mit dem Gebrauch von Schusswaffen aufwachsen."
Doch nicht die Waffe selbst ist das stärkste Indiz, sondern die Aussage der siebenjährigen Halbschwester Jenessa. In ihrer ersten Aussage berichtet sie von einem Morgen ohne Auffälligkeiten. Doch beim zweiten Verhör des kleinen Mädchens meint sie sich plötzlich an das Geräusch einer abgefeuerten Waffe zu erinnern.
Drei Jahre blieb Jordan im Edmund-L.-Thomas-Jugendzentrum in Erie County. da war er schon über zwei Jahre wegen Mordes angeklagt – und zwar nach Erwachsenenstrafrecht. In Pennsylvania ist es üblich, dass Mordfälle unabhängig vom Alter des Angeklagten vor einem Erwachsenengericht verhandelt werden. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International schaltete sich ein, die Anklage als Erwachsener verstoße gegen das Völkerrecht.
Finanzieller Ruin
Für die Familie Brown waren schon die drei Jahre ohne Richterspruch die Hölle auf Erden. Vater Chris Brown war von der Unschuld seines Sohnes überzeugt und besuchte ihn täglich. 230 Meilen, umgerechnet rund 370 Kilometer, fuhr Brown jeden Tag. Er verlor seinen Job. "Alles Geld, das reinkam, landete im Bezintank", berichtet der Vater. Für Jordan waren die Besuche ein Rettungsanker, um die Hoffnung nicht zu verlieren. Sein Vater wollte die Wahrheit wissen. "Ich gab ihm jede Gelegenheit, ehrlich zu sein", sagt Brown. Er habe gesagt: "'Jordan, hör zu, Unfälle passieren, Kumpel. Weißt du, wenn etwas passiert ist, sag es mir. Ich werde nicht böse auf dich sein. Ich bin dein Vater. Ich werde immer dein Vater sein ", sagte Chris Brown.
Trotz der schwachen Indizien wird Jordan zunächst vor ein Erwachsenengericht gestellt. Erst das Oberste Gericht von Pennsylvania unterbindet das Vorgehen und sorgt dafür, dass der inzwischen 13-Jährige vor ein Jugendgericht kommt. Drei Tage dauert der Prozess, am Ende stand der Schuldspruch. Jordan wird wegen Mordes an seiner Stiefmutter und wegen Todschlags an ihrem ungeboren Kind verurteilt. "Ich kann mich erinnern, dass ich Jordan nur angeschaut habe und das Gefühl hatte, dass wir ihn im Stich gelassen haben", sagte Jordan Browns Anwalt Steve Colafella gegenüber ABC News. "Und ich erinnere mich nur daran, wie ich ihn ansah und dachte: 'Wie kann dieses Kind noch Hoffnung haben?'"
Jordan Brown: Verurteilung wird aufgehoben
Jordan Brown wurde nun an ein Jugendgefängnis überstellt. Er begann, Basketball zu spielen und brachte sich selbst das Gitarrespielen bei. Außerdem las er viel, sein Vater brachte ihm immer neue Bücher. Sieben Sommer verbrachte Jordan hinter Gittern. Erst zwei Monate vor seinem 19. Geburtstag, am 13. Juni 2016, wurde er entlassen. Der Richter setzte seine Strafe zur Bewährung aus. Die Berufungsklage seiner Anwälte wurde erst achteinhalb Jahre später zugelassen. Im Juli 2018 kam es zu einem sehr seltenen Schritt: Der Oberste Gerichtshof von Pennsylvania kam zu der Entscheidung, dass die Beweise damals nicht ausgereicht hätten, um Jordan zweifelsfrei schuldig zu sprechen. Seine Verurteilung wurde aufgehoben.
Chris Brown ist zwar überglücklich, dass sein Sohn frei ist. Doch den Polizisten, die seinen Sohn damals verhaftet haben, wird er wohl immer böse sein. "Sie haben einem Elfjährigen die Kindheit genommen. Sie haben seinen Namen ruiniert. Wenn Sie 'Jordan Brown' googlen, wird sein Foto angezeigt", sagt der Vater. Jordan Brown besucht nun das College, studiert Informatik und will seine Vergangenheit hinter sich lassen.

Wer war der Täter?
Einer der Ermittler, die Jordan als Mörder festnahmen, ist sich immer noch sicher, dass der Junge damals zum Mörder wurde. "Dieser Fall wurde von einigen der besten Polizeibeamten in diesem Land untersucht, ganz einfach. Und keiner von uns wollte einem Elfjährigen Handschellen anlegen. Da hat der Fall uns hingebracht. Ich bin nie davon ausgegangen, dass wir die falsche Person verhaftet haben", sagte er zu ABC News. Inzwischen wurde bekannt, dass der Ex-Freund von Kenzie Marie Houk sie damals mehrfach gewalttätig bedroht habe. Auch ihre Familie konnte das bestätigen. Bis heute ist der Mord an Kenzie Marie Houk nicht aufgeklärt.