Sieht man ihm zu, wie er auf die Bühne geht, gebeugt wie ein alter Mann zum Klavier schleicht, dann wirkt es so, als trüge Fazil Say die ganze Last des Abendlandes auf seinen Schultern. Aber alles Schwere weicht, sobald er spielt. So wild und kraftvoll, dass auch der letzte Zuhörer intuitiv begreift: Da vorne am Flügel sitzt einer, der mit dem Herzen agiert, nicht mit dem Verstand. Ein rastloser Suchender, der sich im Konzert immer wieder verausgabt. Und dabei auch gerne mal ein paar falsche Töne produziert.
Vor ein paar Wochen hat Fazil Say, 1970 in Ankara geborener Weltklassepianist und Komponist, mal wieder danebengegriffen – jedenfalls in den Augen und Ohren der türkischen Justiz. Sie hat ihn nach Artikel 216 des türkischen Strafgesetzes angeklagt, weil er "die religiösen Werte eines Teils der Gesellschaft" beleidigt und dadurch den "öffentlichen Frieden" gestört habe. Seit Donnerstag steht Say wegen Islam-Beleidigung vor Gericht. Ihm drohen bis zu 18 Monate Haft.
Sein Verbrechen? Er hat ein fast 900 Jahre altes Gedicht des persischen Dichters Ommar Khayyam getwittert, in dem es heißt: "Du sagst, durch deine Bäche wird Wein fließen, ist das Paradies denn eine Schänke? Du sagst, du wirst jeden Gläubigen mit zwei Jungfrauen belohnen, ist das Paradies denn ein Bordell?" Und er hat sich über das hastig runter geratterte Abendgebet eines Imam lustig gemacht: "Warum so eilig? Eine Geliebte? Der Raki-Tisch?"
Say lässt seine Musik sprechen
Say will einfach nicht den Mund halten, wo andere schweigen. Auch vor Gericht nicht, wo er den Vorwurf zurückwies. Schon sein Vater Ahmet, Musikwissenschaftler und Schriftsteller, saß als Regimekritiker mehrfach in türkischer Haft. Sein Sohn Fazil, geboren mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, wuchs als nuschelndes Wunderkind in einem Klima der Freiheit auf. Er studierte erst in Ankara, dann in Düsseldorf. Dort versuchten ihn Anhänger des radikalen "Kalifen von Köln", Metin Kaplan, vergeblich für ihre Ziele zu vereinnahmen. Jede Art von Extremismus ist dem Atheisten Fay zuwider. Er ließ seine Musik sprechen, konzertierte in den USA, zog nach New York, wo 2000 auch seine Tochter Kumru ("Turteltaube") zur Welt kam.
Aus der Ferne beobachtete er die politisch-religiöse Entwicklung in seiner Heimat mit Argwohn und kommentierte in einem Interview bissig: "Die Islamisten haben ohnehin schon gewonnen, wir sind 30 Prozent, die sind 70. Ich denke darüber nach, woanders hinzuziehen." Und wenig später legte er nach: "Wird meine Tochter Kopftuch tragen müssen, und werde ich noch Beethoven spielen können?" Die Türkei drohe "ins Mittelalter abzugleiten". Bis heute wirkt der 42-Jährige wie zerrissen: Zwar lebt er seit 2001 in Istanbul, aber er hadert nach wie vor. Zuletzt beschimpfte er den Arabesk, die schnulzige und stets grottentraurige Lieblings-Musik seines Volkes – beliebter Refrain: "Ich sterbe!" – als "verlogen". Wer sich das anhöre, sei ein "selbstmitleidiger Prolet".
Ein Affront auch gegen den bekennenden Arabesk-Fan und so frommen wie asketischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, 58. Der schien früher einmal zu versuchen, den Koran mit der Moderne zu versöhnen. Jetzt propagiert er, der Staat müsse „eine religiöse Jugend heranziehen“. Und droht den staatlichen Bühnen mit Privatisierung, sollten sie sich weigern, konservative Stücke zu spielen, die "das Volk" sehen wolle. Für "das Volk" hat Fazil Say viel getan.
Er leidet unter seinem Land
Er tourte durch 40 anatolische Kleinstädte und gab Gratiskonzerte. Benedikt Stampa, Intendant des Konzerthauses Dortmund, kennt ihn gut. Er sagt: "Fazil ist ein sehr einsamer, unglaublich liebebedürftiger Mensch, der an vielen Dingen leidet, nicht zuletzt an sich selbst. Und er leidet unter seinem Land, gerade weil er überzeugter Türke ist."
Und was sagt Fazil Say? "Ich kann nicht mehr", schrieb vor einigen Wochen auf Facebook. Und bittet diejenigen, die ihn verurteilen wollen, "sich ein wenig Zeit für meine Musik zu nehmen". Say gibt gerade fast täglich ein Konzert. Vielleicht hilft gegen die Islamisierung wirklich nur Mozart und sein "Türkischer Marsch".