Hinweis der Redaktion: Joe wurde am Freitag (24. Juni) lebend in einem Gullyschacht in Oldenburg gefunden. Wir haben die Bilder von ihm daher verpixelt. Mehr zu Entdeckung des Jungen lesen Sie hier.
Es ist die vergangene Zeit, die die Hoffnung immer kleiner macht. Von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag.
Denn alle kennen natürlich die Statistiken der Polizei. Rund 15.000 Kinder werden pro Jahr als vermisst gemeldet. Die allermeisten tauchen schon binnen eines Tages oder spätestens nach einer Woche wohlbehalten wieder auf. Sie sind im Streit davongelaufen oder haben das Abenteuer einer vermeintlichen Freiheit gesucht.
Junge verschwand in Oldenburg
Joe ist noch nicht wieder aufgetaucht. Nicht nach Stunden, nicht nach Tagen, nicht nach einer Woche. Der Achtjährige bleibt verschwunden, spurlos. Von Anfang an sei in alle Richtungen ermittelt worden, versichert die Polizei im niedersächsischen Oldenburg. Ist Joe weggelaufen? Hatte er einen Unfall? Je weiter die Zeit voranschreitet, desto unwahrscheinlicher sind diese Hypothesen. Desto wahrscheinlicher ist das, was alle Hoffnungen zunichtemachen könnte: Dass Joe einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Sechs Tage nach dem Verschwinden des kleinen Jungen gründet die Polizei jetzt eine Mordkommission. Die Ermittlungen laufen gegen "Unbekannt".
Die Spur des Jungen verliert sich auf dem Gelände der früheren Bundeswehr-Kaserne Donnerschwee im Nordosten der Großstadt mit ihren 170.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Wo bis zum Jahr 2008 Soldatinnen und Soldaten lebten und arbeiteten, sind Wohnungen in den alten Backsteingebäuden entstanden.
Es ist am vergangenen Freitag (17. Juni) gegen 17.30 Uhr, als Joe dort das letzte Mal gesehen wird. Für das Wochenende werden im Nordwesten Deutschlands sommerliche Temperaturen von bis zu 25 Grad vorausgesagt. Joe ist an diesem Abend vermutlich barfuß unterwegs, so steht es im Fahndungsaufruf der Polizei, der noch am selben Abend um 23.20 Uhr herausgegeben wird. Der Schichtleiter der Polizeiwache am Oldenburger Friedhofsweg hängt dem Schreiben an alle Medien ein Foto des Jungen an. Es ist keine drei Wochen alt. Joe, dunkle und schulterlange Locken, dunkle Augen, sitzt an einem Fenster und lächelt in die Kamera. Auf dem Fensterbrett neben ihm ruht sich eine Katze aus.
Die Zeitungen in der Region veröffentlichen das Bild, samt weiterer Beschreibung: etwa 1,50 Meter groß, kräftige Statur, blaues T-Shirt mit weißer Aufschrift "Kodiak", graue Schlafhose, schwarze Weste mit weißer Aufschrift "Polizei". Ausgerechnet.
Eine ganze Stadt sucht Joe
Die echte Polizei beginnt noch am Abend des Verschwindens ihre erste Suchaktion. Sie wird nicht die letzte bleiben. "Aufgrund einer geistigen Behinderung und seinem jungen Alter ist Joe dringend wieder in berechtigte Obhut zu übergeben", erklärt der Dienstschichtleiter der Polizei. Streifenwagen fahren durch die Straßen der Stadt, Beamtinnen und Beamte machen Lautsprecherdurchsagen, auch Rettungshunde sind im Einsatz. Die Polizei hält es für möglich, dass Joe die Suche nach ihm als Spiel missverstehen könnte. Doch es ist kein Spiel. Joe bleibt verschwunden.
Die Suche nach dem Jungen geht am Wochenende weiter – und auch in der Woche danach. Die Polizei spricht von einem "großen Kräfteansatz" und übertreibt damit offenkundig nicht. Die örtliche Presse, darunter die "Nordwest-Zeitung", berichtet in allen Einzelheiten über die Suchaktionen, eine Auswahl:
Gewässer werden mit Sonarbooten und speziell ausgebildeten Hunden abgesucht; Drohnen steigen auf; Polizei-Hundertschaften, Rettungsdienste, die Feuerwehr und Freiwillige durchkämmen Stadtviertel und Felder, auch im angrenzenden Landkreis Ammerland; etliche Objekte in der Stadt werden durchsucht; Wärmebildkameras kommen zum Einsatz; verdächtige Fußspuren in einem Maisfeld werden untersucht; ein Polizeihubschrauber steigt auf. Ohne Erfolg. Und die Zeit läuft, die Hoffnung wird kleiner.
Auch die Oldenburgerinnen und Oldenburger nehmen Anteil am Schicksal des Jungen. Ein Gruppenchat von Freiwilligen für die Suche nach Joe umfasst rund 1000 Mitglieder, berichtet der Norddeutsche Rundfunk. "Wir hoffen, dass wir ihn endlich finden, dass wir ihn endlich nach Hause bringen können", sagt eine von ihnen. "Ich hoffe, dass der Kleine unversehrt gefunden wird!", schreibt eine Frau unter dem Hashtag "#wirsuchenjoe" bei Twitter. "Grad nochmal rausgegangen, erneut den Schuppen kontrolliert, beim Haus der ausgezogenen Nachbarn alles abgegangen", schildert eine andere. Die Freiwilligen starten eigene Suchaktionen, stapfen durch Felder und Straßen. Die Hilfsbereitschaft sei "absolut bewegend", sagt Polizist Stephan Klatte. Die Privatleute verteilen mehrere Tausend von einem Unternehmen kostenlos gedruckte Flugblätter auf dem Pferdemarkt in der Innenstadt und später im ganzen Stadtgebiet. Joe liebe das Wasser, aber er könne nicht schwimmen, heißt es auf den Flyern. Beunruhigend. Und: "Bitte schaut in Kellern, Schächten, Gebäuden oder ähnlichen Verstecken nach, Joe klettert liebend gerne." Außerdem: "Es ist nicht ausgeschlossen, dass Joe auch alleine mit dem Zug gefahren ist." Ermittlerinnen und Ermittler werten auch die Videoaufzeichnungen des Bahnhofs aus. Die Bilder führen zu nichts.
Bei der Polizei gehen in den Tagen nach dem Verschwinden Hinweise aus der Bevölkerung ein – eine "Vielzahl", wie ein Sprecher sagt. Die Beamtinnen und Beamten seien allen nachgegangen.
Trotz des immensen Aufgebots von Mensch und Material bleibt am Ende ein bitteres Fazit: "Weiterhin keine Spur von Joe", so die Polizei am Donnerstag. "Deshalb wurde die ursprüngliche Annahme, das Kind könnte sich bewusst versteckt halten, in den vergangenen Tagen damit zunehmend unwahrscheinlich."
Polizei gründet Mordkommission
Der gestrige Donnerstag – sechs Tage sind vergangen, seit Joe das letzte Mal gesehen wurde – wird möglicherweise zum traurigen Wendepunkt bei der Suche nach dem Jungen. "Aufgrund des Hinweises eines Zeugen ergibt sich nunmehr der Verdacht, dass Joe Opfer einer Straftat geworden sein könnte", teilt die Polizei mit. Ins Detail geht sie nicht, Ermittlungstaktik.
Der Vermisstenfall wird damit mehr und mehr zum Kriminalfall. Die Zeit, die seit dem Verschwinden vergangenen ist, hat die Hoffnung immer kleiner gemacht, den Jungen wohlbehalten wiederzufinden.
Durch die Entscheidung der Oldenburger Staatsanwaltschaft, ein Ermittlungsverfahren zu starten, stehen jetzt die Möglichkeiten der Strafprozessordnung zur Verfügung. Als Beispiel nennt die Polizei die "Sicherung von Daten, die ansonsten unwiederbringlich verloren wären". Aber auch die Vorladung von Zeuginnen und Zeugen, erkennungsdienstliche Behandlungen oder Observationen gehören nun unter anderem zum Werkzeugkasten der Ermittlerinnen und Ermittler.
Rund 30 Beamtinnen und Beamte gehören der neu gegründeten Mordkommission "Ammer" an, die die Hintergründe von Joes verschwinden aufklären soll. Trotz dieses Schritts versichert die Polizei, zweigleisig zu fahren und nicht aufzugeben: "Die Suche nach dem Kind hat oberste Priorität bei den polizeilichen Maßnahmen."
Die Hoffnung in Oldenburg, sie wird kleiner. Aber verschwunden ist sie noch nicht.
Hinweise zum Aufenthaltsort des achtjährigen Joe nimmt die Polizei in Oldenburg unter der Telefonnummer (0441) 7904115 oder jede andere Polizeiwache, auch unter der Notrufnummer 110, entgegen.
Quellen: Bundeskriminalamt, Polizeiinspektion Oldenburg-Stadt / Ammerland (1), Polizeiinspektion Oldenburg-Stadt / Ammerland (2), Norddeutscher Rundfunk, #wirsuchenjoe bei Twitter, "Nordwest-Zeitung", Strafprozessordnung, Nachrichtenagenturen DPA und AFP