S-Bahn-Mord von Hamburg Ghetto-Gewalt schockt das Bürgertum

  • von Sönke Wiese
München und Hamburg. Piekfein, hübsch anzuschauen, wirtschaftlich stark. Doch der schöne Schein trügt. Gewaltbereite Ghetto-Kids machen selbst die bürgerlichsten Orte unsicher.

Boutiquen und teure Restaurants säumen den Hamburger Jungfernstieg, hier steht der Shoppingtempel Alsterhaus, gegenüber legen die Schiffe für Alsterrundfahrten ab. Am Wochenende kommen vor allem Familien und Touristen hierher, junge Leute finden diese Flaniermeile eher langweilig. Doch die typischen Reviere der Jugendbanden sind nur ein paar S-Bahnstationen entfernt.

Am Freitagabend, den 14. Mai, herrscht am Jungfernstieg etwas mehr Trubel als sonst; die Stadt feiert gerade das Kirschblütenfest an der Alster, wieder so eine Familienveranstaltung. Mel D., Schüler aus Altona, wartet mit einem Freund auf die S-Bahn Richtung Wedel, als um 21.21 Uhr fünf Jugendliche aussteigen. Ein paar Minuten später ist Mel tot, verblutet auf dem Bahnsteig. Einer der Jugendlichen, der 16-jährige Elias A., hat ihm ein Messer in die Brust gerammt, völlig unvermittelt, wie die Bilder der Überwachungskameras zeigen. "Was guckst du, was ist hier los?" So soll einer aus der Gruppe der Jugendlichen zuvor die zwei Freunde angepöbelt haben - dann folgte der tödliche Stich.

Das besonders Schockierende an der Tat: Es hätte jeden treffen können. Wenn bereits ein falscher Blick scheinbar einem Todesurteil gleich kommt - wie sicher sind Deutschlands Innenstädte noch? Wie kann man die Öffentlichkeit vor kriminellen Jugendlichen schützen? Warum überhaupt attackieren immer häufiger Minderjährige unbeteiligte Passanten völlig grundlos?

Neue Brutstätten der Gewalt

Zwar nimmt die Jugendkriminalität insgesamt seit Jahren bundesweit nicht mehr zu. Ein anderes Bild ergibt sich aber beim Blick auf die Großstädte. Sie werden immer mehr zu Brutstätten der Gewalt. In Hamburg beispielsweise gibt es seit Jahren immer mehr Fälle von Körperverletzung, wie die Kriminalitätsstatistik zeigt. 2009 nahm die schwere und gefährliche Körperverletzung in der Hansestadt um knapp 15 Prozent zu. Und 40 Prozent dieser Gewalttäter sind unter 21 Jahre.

"Die extremste Gewaltbereitschaft zeigt sich in bestimmten Metropolen, wo es einen besonders krassen Arm-Reich-Gegensatz gibt: in Hamburg, München, Frankfurt", sagt der Sozialwissenschaftler Rainer Kilb stern.de. Der Professor an der Hochschule Mannheim hat sich vor allem mit Jugendgewalt im urbanen Raum auseinandergesetzt. Die brutalen Exzesse würden schon lange nicht mehr ausschließlich in Problemvierteln stattfinden, sondern hinaus in die bürgerliche Welt getragen werden. "Die Jugendlichen aus den 'Verlierer-Mileus' bleiben nicht mehr in den sozialen Brennpunkten, sondern fahren dorthin, wo etwas los ist: Das sind die Innenstädte", sagt Kilb. Und hier entlade sich der Hass, der sich über einen langen Zeitraum aufgestaut habe. Frust und Neid könnten zu spontanen Übersprungshandlungen führen, die Opfer sind dabei meist völlig wahllos ausgesucht.

Tatsächlich war der Vorfall am Hamburger Jungfernstieg nur der jüngste in einer schrecklichen Reihe von Attacken durch Jugendliche in Hamburg und München:

  • Im Juli 2009 schlagen drei Schweizer Jugendliche (alle 16 Jahre alt) in der Münchner Innenstadt wahllos Passanten zusammen, ihre Opfer werden schwer verletzt.
  • Im September 2009 erschlagen zwei Jugendliche, 17 und 18 Jahre alt, an der S-Bahnstation München-Solln den Geschäftsmann Dominik Brunner, nachdem er von ihnen bedrohte Kinder geschützt hatte.
  • Im September 2009 prügeln ein 16- und ein 17-Jähriger am Bahnhof Hamburg-Harburg einen 44-Jährigen ins Koma, weil er ihnen kein Kleingeld gibt. Das Opfer stirbt drei Wochen später.
  • Im Januar 2010 sticht ein 16-Jähriger an der U-Bahnstation Hagendeel in Hamburg einen 18-Jährigen nach einer Rempelei nieder, die Lunge wird getroffen, Ärzte können in einer Notoperation das Leben des Opfers retten.
  • Im Februar 2010 schlagen zwei Jugendliche (beide 20 Jahre alt) im Hamburger Metrobus 2 vor den Augen der Fahrgäste einen 19-Jährigen so schlimm zusammen, dass er ins Koma fällt. Das Opfer überlebt knapp.

"Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Gewalt immer schlimmer wird", sagt Volkert Ruhe vom Hamburger Verein "Gefangene helfen Jugendlichen". Mit seinem Team will er gefährdete Jugendliche durch Präventionsarbeit frühzeitig von kriminellen Karrieren abbringen. Größtes Problem sei, dass sich immer mehr Minderjährige mit Waffen ausrüsteten. "Viele schieben vor, sie bräuchten sie nur zur Selbstverteidigung. In Wahrheit hat das viel mit Machogehabe zu tun." Wer aber eine Waffe einstecke, begehe schon den ersten Fehler, so Ruhe. "Früher oder später kommt sie zwangsläufig zum Einsatz."

Denn viele Jugendliche hätten heute keinerlei Empathie, meint der Anti-Gewalt-Trainer. "So etwas wie Mitgefühl ist ihnen in ihren Familien nie vermittelt worden." Stattdessen erführen viele zum ersten Mal Anerkennung nach extremer Gewaltausübung, zum Beispiel wenn sie auf dem Schulhof ein willkürliches Opfer zusammenschlagen. "Da stehen ihre Kumpels ringsherum, filmen mit der Handy-Kamera und applaudieren - eine fatale Erfahrung, die ihren Weg in die Kriminalität vorzeichnet."

Eine Studie des niedersächsischen Kriminologen Christian Pfeiffer hat ergeben, dass die meisten kriminellen Jugendlichen soziale Außenseiter seien. Häufig gebe es auch einen Migrationshintergrund, "in dem den Jungen vorgelebt wird, dass Männer stark, überlegen und dominant sein müssen", sagte Pfeiffer der "Hamburger Morgenpost". Tatsächlich sind laut Hamburger Kriminalstatistik ausländische Tatverdächtige bei Gewaltkriminalität überrepräsentativ vertreten.

Jahrelange Demütigung und Erniedrigung

In jedem Fall hätten fast alle jugendlichen Täter zuvor selbst Gewalt erfahren, sagt der Mannheimer Sozialwissenschaftler Kilb. "Die meisten haben eine jahrelange Demütigung und Erniedrigung hinter sich, sei es in der Familie oder im Freundeskreis." An wen oder wann sie ihren Frust ablassen, sei vollkommen unvorhersehbar.

Auch am 14. Mai war jeder, der an diesem Abend zufällig an der S-Bahnstation Jungfernstieg wartete, ein potenzielles Opfer von Elias A. Der 16-Jährige wird schon seit langem in der sogenannten Protäkt-Datei geführt. In dem "Projekt täterorientierte Kriminalitätsbekämpfung" listen die Hamburger Behörden die schlimmsten Jugendstraftäter der Stadt auf - es sind die "Top 100" der insgesamt rund 500 identifizierten jugendlichen Intensivtäter. Elias A. fiel das erste Mal mit 10 Jahren durch eine Körperverletzung auf, 15 Einträge umfasst seine Akte bis heute. Er war eine tickende Zeitbombe.

Was aber tun gegen gewaltbereite Jugendliche? "Kurzfristig könnte verstärkte Polizeipräsenz zumindest die Sicherheit im öffentlichen Raum erhöhen", sagt Sozialwissenschaftler Kilb. Tatsächlich hatte die Hamburger S-Bahn zur Tatzeit keine Sicherheitsmitarbeiter am Jungfernstieg im Einsatz. Der Ort gehöre nicht zu den Kontrollschwerpunkten, das sei gewöhnlich eine unauffällige Station, sagte ein Sprecher zur "Hamburger Morgenpost".

Sollte das Waffenrecht verschärft werden, wie es nun die Hamburger SPD fordert? "Das bringt gar nichts", glaubt Volkert Ruhe. "Die meisten Waffen der Jugendlichen sind ja bereits illegal. Das schert die gar nicht."

Könnte wenigstens ein strengeres Strafrecht helfen? Auch daran glauben die Experten nicht. Härtere Strafen funktionierten bei verkorksten Kindern nicht als Abschreckung. "Eine Verschärfung des Jugendstrafrechts hat keinen Effekt", sagt Kilb. "Dass das ab und an gefordert wird, ist eine rein symbolische Handlung der Politik." Auch Volkert Ruhe vom Verein "Gefangene helfen Jugendlichen" meint, dass der "rechtliche Rahmen absolut ausreichend" sei.

Habe ein Jugendlicher erst einmal eine Karriere wie Elias A. eingeschlagen, könne man im Grunde nichts mehr tun, glaubt er. "Diese Jungs sind kaum noch therapierbar." Selbst bei einer Verurteilung setze noch kein Umdenken ein. "Für sie ist Knast erst einmal cool. Dort sind lauter interessante Männer, die mit Hanteln trainieren, ihre Körper stählen - so in etwa ist ihre Vorstellung."

Viele seien intellektuell gar nicht in der Lage, ihr Verhalten zu reflektieren. "Wir müssen so früh wie möglich in ihre Köpfe bringen, dass sie mit ihren Übergriffen Leben verpfuschen - ihr eigenes und das der Opfer", sagt Ruhe. Schon in früher Kindheit zeichneten sich kriminelle Karrieren ab. Dagegen helfe nur viel intensivere Präventionsarbeit, in den Kindergärten, Schulen und vor allem in den Familien. Aber Ruhe weiß: "Das ist vor allem eine Frage des Geldes."

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