Totschlag Sie konnte Marco nicht loslassen

  • von Uta Eisenhardt
Marco G. war auf seinen Rollstuhl und intensive Pflege angewiesen
Marco G. war auf seinen Rollstuhl und intensive Pflege angewiesen
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Die Mutter eines Schwerbehinderten wollte sich das Leben nehmen. Ihren Sohn mochte sie nicht allein zurück lassen, weil es ihrer Meinung nach in dieser Welt keinen Platz für ihn gäbe. Die Tötung ihres Sohnes gelang, der eigene Selbstmord nicht. Nun steht die Überlebende wegen Totschlags vor Gericht.

Eigentlich sollte es nach jener schicksalhaften Freitagnacht zwei Leichen geben. Eveline G. nahm damals alle Tabletten, die sie in ihrer Wohnung finden konnte. Die Hälfte der Medikamente schluckte sie selbst. Die andere zerstampfte sie mit dem Mörser, löste sie in Wasser und flößte die Mixtur ihrem Sohn ein. Anschließend schnitt sie sich und ihm die Pulsadern auf. Zwei Tage später sorgten sich die Nachbarn um die beiden, weil die Werbebroschüren noch immer vor der Wohnungstür der Familie G. lagen. Sie klingelten und trafen auf eine völlig verstörte Mutter, die immer wieder rief: "Marco ist tot. Marco ist tot."

Ein Jahr später nun soll vom Landgericht Berlin ein Schuldspruch über die kleine Frau mit den blondierten, sorgfältig hochgesteckten Haaren gesprochen werden. "Totschlag" ist die juristische Bezeichnung für das, was die 61-Jährige begangen hat. Dieser wird mit mindestens fünf Jahren Haft bestraft. Doch möglicherweise war die völlig verzweifelte Mutter schuldunfähig.

Fünf Jahre nach der Geburt verließ sie ihr Mann

Marco G. wurde 1981 in Westberlin geboren. Er war das erste Kind von Eveline G. und er war ein Wunschkind. Die Schwangerschaft der damals 34-jährigen Mutter verlief völlig unkompliziert - nicht dagegen die Entbindung. Aufgrund ärztlicher Fehler erlitt der Junge einen Sauerstoffmangel bei der Geburt und war körperlich schwerst behindert. "Es hat das ganze Leben verändert", sagt die Angeklagte. Das Leben der ehemaligen Betriebswirtin richtete sich nun nach den Bedürfnissen ihres extrem pflegebedürftigen Kindes. Ihre Ehe ist daran zerbrochen - fünf Jahre nach der Geburt verließ sie ihr Mann. Nicht ohne die Empfehlung auszusprechen: "Bind dir doch den Marco auf den Bauch!"

Nun war Eveline G. allein für ihren Sohn verantwortlich. In vier von sieben Nächten konnte sie nicht schlafen, weil sie sich um ihren unter chronischer Bronchitis leidenden Jungen kümmerte, weil sie ihn abklopfte, mit ihm inhalierte und - wenn es gar nicht mehr ging - den Rettungswagen holte und mit ihm ins Krankenhaus fuhr. Oft wurde er operiert. Auch dann wich sie nicht von seiner Seite, um ihn zu füttern und zu waschen. Dies tat sie, weil sie mit der professionellen Pflege schlechte Erfahrungen gemacht habe: Mal hatte der Junge Druckstellen vom falschen Liegen, mal kam er völlig unterernährt zurück. Nachts habe sich auch keiner um ihn gekümmert. So konnte Eveline G. die Abwesenheit ihres Sohnes nicht zum Entspannen nutzen. "Ich war ständig in Sorge."

Mit Hilfe des Betreuers konnte sich der Behinderte mit Freunden treffen

Wenn Marco gesund war, stand sie mit ihm um sechs Uhr morgens auf, wusch ihn und setzte ihn präzise in den Rollstuhl, denn wenn er falsch saß, bekam er Schmerzen. Vor Gericht sagt sie: "Es musste alles ruhig und langsam passieren. Wenn er nervös wurde, ging gar nichts." Um acht Uhr wurde Marco abgeholt und in eine Behindertenwerkstatt gefahren, wo er den anderen zuschaute, weil er selbst nicht mitarbeiten konnte. Allerdings war Marco nicht geistig behindert, er konnte sogar mit seinen Augen kommunizieren: Sah er nach oben, bedeutete das "Ja", sah er zur Seite, hieß das "Nein". Während er in der Werkstatt war, erledigte seine Mutter den Haushalt und versuchte, sich von den anstrengenden Nächten zu erholen. Denn wenn ihr Sohn um 14 Uhr wieder zurück kam, "war er der Mittelpunkt - das war er immer", sagt die Angeklagte.

Höhepunkt in Marcos Leben waren die Ausflüge mit seinem Einzelfallhelfer, dessen Kosten vom Sozialamt getragen wurden. Der junge Mann, der Marco über zehn Jahre lang begleitet hat, ermöglichte ihm, die Welt zu erkunden. Mit Hilfe des Betreuers konnte sich der Behinderte mit seinen Freunden treffen, ins Theater gehen oder Drachen steigen lassen. "Ich war die einzige Tür nach draußen", sagt der Sozialpädagoge vor Gericht. "Das hat er unwahrscheinlich genossen und geschätzt." Weil man durch Marcos Minenspiel so "gutes Feedback" bekam, war es auch für den Betreuer "ein großer Spaß, mit ihm Unternehmungen zu machen."

Der Kampf mit den Behörden war zermürbend

Im Sommer 2005 glaubte Eveline G., noch einmal die große Liebe in ihrem Leben gefunden zu haben. Über Freunde lernte sie einen 17 Jahre jüngeren Mann kennen. Michael S., von Beruf Schulbetreuer, liebte sie und ihren Sohn. "Marco steckte an, er konnte süchtig machen", sagt der schnauzbärtige Mann vor Gericht und weint. Im September 2007 wurde Michael S. an eine neue Schule versetzt. Die veränderten Arbeitswege, der Stress in der neuen Schule und Evelines Eifersucht führten dann zu Streitereien. "Wollten Sie sich trennen", fragt die Richterin den Zeugen. "Nein, Abstand haben", sagt Michael S. "Sie schlug vor, dass wir uns nicht so oft sehen, dass wir eher telefonieren." Doch manchmal ist ein "Abstand" der Anfang vom Ende. Eveline G., so sagt ihr Freund und heutiger Verlobter, "war sich sicher, das sei eine Trennung für immer."

In dieser Zeit drohte auch die für Marco so immens wichtige Einzelfallhilfe den leeren Kassen der Sozialämter zum Opfer zu fallen. Schon zuvor wurden ihm die Stunden ständig gekürzt - von ursprünglich zwölf auf zehn Stunden in der Woche. 2007 sollten es nur noch acht Stunden sein. Abzüglich der Büroarbeit blieben für Marco nur noch sechs Stunden. Man riet Eveline G., ihren Sohn in ein Heim zu geben. Das wollte sie niemals - sie glaubte, ihr Sohn habe ohne sie keine Chance, wie sie einmal ihrem Nachbarn sagte. Eveline G. klagte beim Sozialgericht, doch als sie den Streit nach Monaten endlich gewann, wollte keine rechte Freude aufkommen - der Kampf mit den Behörden war so zermürbend gewesen. Im Sommer 2007 wurden für Marco nun wieder zwölf Stunden genehmigt, allerdings nur bis zum Ende des Jahres. Aus dem kurzen Bewilligungszeitraum schloss seine Mutter, die Maßnahme solle danach gänzlich eingestellt werden.

Von Weinkrämpfen geschüttelt

Am Tag vor seinem Tod besuchte Marco gemeinsam mit einem Freund und seinem Einzelfallhelfer ein Theaterstück mit behinderten Schauspielern. Es wurde im Osten Berlins aufgeführt, wo sich die gebürtige Westberlinerin G. überhaupt nicht auskannte. Dennoch wollte sie ihren Sohn dorthin chauffieren. Sie bat ihren Freund Michael, sie zu lotsen, was dieser auch tat. Zugunsten ihrer Fahrtüchtigkeit hatte G. auf die Einnahme ihrer Antidepressiva verzichtet. Unterwegs wurde sie darum von Weinkrämpfen "bis zum Übergeben" geschüttelt. Zweimal hätten sie deswegen anhalten müssen, erinnert sich ihr Verlobter vor Gericht. Schockiert reagierte die sowieso schon instabile Frau, als sie von ihrem Freund erfuhr, er könne sie nicht zurück begleiten, er wolle unbedingt das letztmalig stattfindende "Festival of Lights" fotografieren. Auch der Einzelfallhelfer mochte ihr nicht helfen, er hatte sich bereits mit seiner Freundin verabredet.

So kam es, dass Eveline G. nach der Heimfahrt ihren Sohn zu sich ins Schlafzimmer nahm, ihn auf eine Seite ihres Doppelbettes legte und mit ihm kuschelte. Dabei sprach sie mit ihm über seine Oma, die vor einem Jahr gestorben war und die der Junge sehr gern gehabt hatte. Sie habe ihm erklärt, wie es ist, wenn man stirbt, sagt die Angeklagte. "Wenn man tot ist, geht der Körper in die Erde und die Seele fliegt herum. Willst du zu Oma", habe sie ihn gefragt. "Willst Du, dass deine Seele fliegt?" Daraufhin habe der junge Mann die Augen nach oben gerichtet.

Ich dachte, wenn wir beide weg sind, ist endlich Ruhe

Als die beiden zwei Tage später gefunden wurden, lagen auf dem Wohnzimmertisch zwei Abschiedsbriefe: Einer war an Evelines Mutter gerichtet, der andere "An alle meine Lieben!" Sie habe alles versucht, um Michael zu vergessen, man solle ihr verzeihen, sie könne nicht anders. "Marco muss ich leider mitnehmen, denn in dieser Welt, wo es nur um die Kosten geht, kann man nur schlecht leben", schrieb die verzweifelte Mutter. Nun gäbe es "zwei teure Kandidaten weniger". Der Ärger mit den Ämtern sei fürchterlich gewesen. Zum Schluss ihres Briefes forderte G. kämpferisch: "Mütter mit behinderten Kindern wehrt euch! Geld für Denkmäler ist da, nur für die Menschen nicht." Vor Gericht begründet die Angeklagte ihren Schritt: "Ich dachte, wenn wir beide weg sind, ist endlich Ruhe."

Im Gerichtssaal gibt es viele Menschen, welche die Aufopferung und die "Affenliebe" dieser Mutter zu ihrem Sohn sehr bewundern. Doch es ertönen auch kritische Stimmen über die "zwanghafte Beziehung" der beiden, über die Eifersucht, die denjenigen entgegen schlug, die Marco neben seiner Mutter liebte und über die Unerbittlichkeit, mit der Eveline G. ihrem Sohn kein eigenständiges Leben zugestehen wollte. Insbesondere der Einzelfallhelfer, dessen Aufgabe es war, Marco in ein selbständiges Leben zu geleiten, äußert sich so. "Sie konnte Marco nicht loslassen. Sie sei die einzige, die ihn richtig versorgen kann. Diese Last drückte auf ihren Schultern und ich wusste, das geht irgendwann schief." Er habe sich immer wieder Sorgen gemacht und überlegt, wie man das Leben von Frau G. erleichtern könne. Darum habe er sich nach technischen Hilfsmitteln erkundigt und sie zu einem Psychologen geschickt. Doch "sie konnte sich nicht vorstellen, dass man durch Gespräche Entspannung finden kann."

Marco wollte unbedingt leben

Ob Marco lebensmüde gewesen sei, will der Staatsanwalt wissen. "Nein, Marco wollte unbedingt leben. Er war so lebensfroh." Sobald es sein gesundheitlicher Zustand es erlaubte, ließ er sich in den Rollstuhl setzen und "wollte raus mit mir." Ob Marco seiner Oma folgen wollte, bohrt der Staatsanwalt weiter. "Das glaube ich nicht", antwortet der Zeuge. Noch heute ist der Betreuer spürbar traurig über den Tod seines Klienten, zu dem er eine enge persönliche Bindung hatte.

Eveline G. versucht nun, den größten Verlust ihres Lebens in einer psychiatrischen Tagesklinik zu verarbeiten, wo sie ihre Zeit mit Bewegungs- und Entspannungstherapie verbringt. "Ich fühle mich sehr wohl. Das hat mir sehr gut getan", sagt sie - einerseits. Andererseits sei ihr Leben ohne Marco nun "so schlimm, wie ich es nie wollte. Jetzt muss ich damit leben, dass der weg ist."

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