Allein in Berlin gibt es zurzeit etwa 2.000 Obdachlose, die das ganze Jahr über draußen schlafen. Gerade in der bevorstehenden Winterkälte unvorstellbar. Den meisten von uns vermitteln sie ein unangenehmes Gefühl. Wir haben gelernt, lieber wegzuschauen und schnell weiterzugehen. Ines Sydow hingegen wird aktiv, wenn das Hinsehen weh tut.
„Ich hatte von einem Nachbarn erfahren, dass ein wohnungsloser Mann bei uns am Waldrand in einer Bushaltestelle lebt“, erinnert sich Ines Sydow aus Berlin-Reinickendorf. „Das konnte ich kaum glauben. Ich bin dann direkt hingefahren und habe ihn angesprochen.“ Sie erfuhr, dass Micha seit acht Jahren auf der Straße lebt und krebskrank ist. Sein sozialer Abstieg hatte begonnen, nachdem kurz hintereinander sein Vater, seine Mutter und auch seine Frau gestorben waren. Daraufhin begann er zu trinken, verlor erst seinen Job, dann die Wohnung – und anschließend jeden Halt. „Das kann sehr schnell gehen“, sagt Ines verständnisvoll. „Wenn man niemanden mehr hat und selber schwach ist, kommt man da nicht so einfach raus.“
Micha bekam weder Sozialhilfe noch hatte er eine Krankenversicherung. Bislang lebte er vom Flaschensammeln. Doch durch Corona gab es keine Veranstaltungen und keine Touristen mehr, also fehlte auch das Pfand.
Da sein, wo die Not ist
Nach dieser Begegnung ging Ines nachdenklich nach Hause. „Mich hat seine Lebensgeschichte sehr berührt und ich wollte ihm helfen“, sagt die 59-Jährige. An den folgenden Tagen brachte sie Micha warme Getränke und Essen vorbei und unterhielt sich mit ihm. Das Gespräch auf Augenhöhe tat ihm sichtlich gut. Ansonsten kannte er nur Ablehnung und Verachtung. Nach und nach wich seine Zurückhaltung und der 61-Jährige taute auf.
„Hatte ein uraltes Fahrrad, um Flaschen zu sammeln, von dem Pfandgeld Essen – und leider auch Alkohol – zu kaufen. Er trinkt nur Bier, keine harten Sachen und konsumiert nach eigenen Angaben keine Drogen“, hat Ines erfahren. „Trinken tun die Obdachlosen leider alle, das verschafft ihnen ein trügerisches Gefühl von Wärme. Es bedeutet aber auch Vergessen und Abschalten. Zu retten sind nur die wenigsten. Mir geht es vor allem darum, dass der sterbenskranke Micha ein menschenwürdigeres Dasein hat.“
Allein konnte sie wenig ausrichten, das war Ines klar. Also wandte sie sich mit folgendem Aufruf an die Nachbarschaftsplattform nebenan.de: „Hier in Heiligensee haust ein Obdachloser im Wald an einer Bushaltestelle. Er ist sehr liebenswürdig und lebt seit über sieben Jahren auf der Straße. Wer kann warme Kleidung spenden, wer Lebensmittel abgeben? Wenn ihr ihm etwas Gutes tun möchtet, schaut einfach bei ihm vorbei und wechselt ein paar nette Worte mit ihm, das vermisst er.“
Bei nebenan.de kann man sich lokal mit seinen Nachbarn vernetzen, sich miteinander verabreden, sich austauschen, Dinge teilen und vor allem einander helfen. Hilfsbereitschaft wird hier großgeschrieben – nicht nur während der Corona-Krise. Im Augenblick werden vor allem Risikogruppen unterstützt. Die Resonanz auf Ines‘ Aufruf war überwältigend. Die nötigsten Dinge kamen ruck, zuck zusammen. Viele Nachbarn brachten Kleidung, Handtücher und Lebensmittel direkt an der Bushaltestelle vorbei.
Micha war total gerührt und sehr dankbar. Nach einiger Zeit erfuhr Ines von seinem großen Herzenswunsch: einem kleinen Radio, um endlich wieder Musik und Nachrichten zu hören. „Super wäre ein Campingradio mit Handkurbel“, schrieb Ines auf nebenan.de, „denn Batterien kosten Geld, und das hat Micha nicht.“ Ines‘ Nachbar Joachim besorgte so ein Radio und machte den obdachlosen Berliner überglücklich. „Es ist erstaunlich, mit wie wenig man Menschen eine Freude machen kann“, sagt die Mutter eines erwachsenen Sohnes.
Palette statt Platte
Doch damit war ihr Engagement für Micha noch nicht beendet. Gemeinsam mit dem Gastronom Norbert Raeder organisierte Ines ein „Little Home“ für ihren Schützling. Der Verein „Little Home“ sammelt Spenden, baut davon mobile Holzhütten – drinnen ein Schlafplatz und ein Campingklo – und schafft so etwas, was auf der Straße vielen fehlt: ein bisschen Privatsphäre und die Möglichkeit, die eigenen Sachen zu verstauen und wegzuschließen. Die „Little Homes“ werden auf privatem Gelände errichtet und an Obdachlose verschenkt. Mittlerweile ist Initiator Sven Lüdecke aus Köln mit seinen 160 Mini-Häusern in 21 deutschen Städten vertreten.
„Damit bekommen Obdachlose eine feste Adresse und können Sozialhilfen beantragen“, erklärt Ines, die im Café eines Seniorenheims arbeitet. Ines und Norbert werden von vielen Nachbarinnen und Nachbarn aus Berlin-Heiligensee unterstützt. Sie alle sammeln Spenden und bauten aus vier Europaletten, Rädern und Spanplatten ein Holzhäuschen für Micha und statteten es liebevoll aus. Ines: „Micha ist stark abgemagert und wird wohl nicht mehr sehr lange unter uns weilen. Mein einziger Trost ist, dass er nicht im Wald wie ein Tier verenden muss, sondern dass er wenigstens sein Häuschen hat.“
Hilfe mit genialer Idee, Holz und Hammer
Bei der feierlichen Übergabe hat sie geheult. „Mir liefen vor Rührung regelrechte Schauer über den Körper“, erinnert sie sich. „Es gibt einem unglaublich viel, wenn man merkt, man kann jemandem helfen. Es ist Wahnsinn, was man selbst dabei empfindet.“ Micha war zunächst völlig verdattert und minutenlang sprachlos. Überraschung gelungen!
Ein „Little Home“ dienst als Sprungbrett in eine eigene Wohnung und zurück in die Gesellschaft. Es sei immer wieder ergreifend, zu sehen, wenn die Menschen ihr Häuschen entgegennähmen und damit ein Stück Würde und Normalität zurückbekämen, berichtet auch Initiator Sven Lüdecke. Was für die einen wie ein einfacher Holzwagen aussieht, ist für die anderen der größte Luxus im Leben. So viel Nächstenliebe hat auch Micha selten erfahren.
„Damit sind Dinge verbunden, an die wir gar nicht denken. Micha sagte bei der Schlüsselübergabe zum Beispiel: ,Endlich kann ich mich zum Schlafen auch mal ausziehen!‘“ erzählt Ines. „Es muss unglaublich anstrengend sein, die ganze Nacht im Halbschlaf zu verbringen, weil man ständig mit allem rechnen muss. Kürzlich gab es in Berlin leider wieder zwei Vorfälle: Ein Obdachloser wurde schlafend auf der Parkbank angezündet und junge Leute legten unter einem Little Home Feuer und zerstörten damit die ganze Existenz eines armen Menschen, der sowieso fast nichts hatte. Es ist furchtbar!“ Zur Sicherheit haben alle Mini-Häuser einen Rauchmelder und einen Feuerlöscher.
Ines Sydow bittet um Kleider- und Sachspenden wie Schlafsäcke und Isomatten für Obdachlose. „Entweder man gibt sie direkt an einen Menschen, der in der Kälte sitzt, oder man bringt sie zu den offiziellen Sammelstellen. Über ein nettes Wort und einen Becher Kaffee freuen sich in diesen Tagen auch viele.“