Apathisch steht die junge Frau auf ihre Krücken gestützt im Universitätskrankenhaus de la Paix in Port-au-Prince. Ihr Kopf ist mit einer dicken Binde eingewickelt, ihr Gesicht aufgeschwollen. Zwei Zehen ihres rechten Fußes sind platt gedrückt. Um den Hals hat sie ein Papierschild gehängt. "Necrosos severa" steht darauf: Schwere Nekrose - die Zellen ihres Fußes sind abgestorben. Sie wartet.
Draußen ist der Himmel grau. Die Tage nach dem Erdbeben waren in Haiti verhältnismäßig frisch gewesen. Jetzt herrscht wieder das übliche Klima: es ist heiß und feucht. Die zerstörte Innenstadt findet langsam zum Leben zurück, es gibt improvisierte Obst- und Gemüsemärkte. Nur die Preise sind um ein vielfaches höher als noch vor einer guten Woche. Der Verkehr ist wieder so chaotisch wie zuvor und schiebt sich langsam durch die Trümmerlandschaft. US-Soldaten streifen durch die Straßen, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen.
Diagnose: offener Schienbeinbruch
Drinnen im Krankenhaus aber herrscht das Chaos. In den Zimmern und Gängen drängen sich die Patienten. In einem Eck sitzt die zwölfjährige Wibline Pierre auf einer Pritsche. Ihr schwarzes Gesicht hat weiße Flecken: tiefe Schürfwunden, die sie sich zugezogen hat, als das Haus ihrer Familie einstürzte. Um sie herum schwirrt ein dichter Schwarm Fliegen. Ihr rechtes Bein liegt unter einer Decke. An ihrem hellblauen Kleid klebt ein handgeschriebener Zettel mit der Diagnose: "Nummer 8, offener Schienbeinbruch."
Neben ihr wartet ihre Mutter Estancia Bedard. Wibline ist ihr letztes Kind. "Meine beiden anderen und mein Mann sind tot", sagt sie matt. "Wir essen, was man uns gibt." Als das Haus in sich zusammenstürzte, konnte sie nichts retten. "Was ich am Leib trage, hat man mir geschenkt." Alles, selbst das leuchtend gelbe Kopftuch über ihrem traurigen Gesicht. Ihre Tochter starrt abwesend hinaus in den Garten. Dort stapeln sich Plastikstühle und Müll. Der Geruch von schwärenden Wunden zieht durch die Gänge. Überall Kranke, die vor Schmerzen jammern, aufgeschlagene Schädel, halbnackte Körper mit tiefen Fleischwunden, zerquetschte Gliedmaßen, die amputiert werden sollen. Auf der anderen Seite der Wand arbeiten die Ärzte, schneiden ein Teil nach dem anderen von geschundenen Körpern. Wibline war schon bei ihnen. Sie hat vier Finger ihrer rechten Hand verloren.
Zwei Tage durch offene Luftröhre geatmet
Die Chirurgen kommen aus Spanien und Kuba. Jeder von ihnen bringt täglich dreißig bis vierzig Operationen hinter sich. Mediziner aus Kolumbien, Venezuela und Chile sind für die Eingangsuntersuchung und Klassifizierung der Patienten zuständig. Sie kümmern sich auch um alle, die keinen chirurgischen Eingriff brauchen. Wenigstens sprechen alle Spanisch. So plaudern sie während der Arbeit miteinander und versuchen, wenigstens Namen und Herkunft der Kollegen zu erfahren. Am leichtesten sind die Kubaner zu erkennen. Sie tragen alle ein T-Shirt mit dem berühmten Portrait von Ché Guevara und der Aufschrift "Ché vive".
Die meisten Patienten kommen mit Knochenbrüchen und entzündeten Wunden, sagt der Anästhesist José María Sorto von der spanischen Delegation. "Aber wir sehen hier alles. Sogar einen Kaiserschnitt haben wir gemacht, ein neues Leben mitten im Tod." Canton Wilsos, 30, kam mit der kubanischen Delegation. Er ist Haitianer, hat aber in Kuba Medizin studiert und blieb dann auch zum arbeiten dort. Der Chirurg koordiniert die Arbeit im Operationssaal und ist gleichzeitig Übersetzer. Er ist der einzige, der das in Haiti gesprochene Kreol versteht. "Wir haben sehr gutes und spezialisiertes Personal hier", sagt er. "Aber was uns fehlt sind Orthopäden und das Material für künstliche Hüften." Zuletzt hat er die 30-jährige Solange Fleurie operiert. Die Frau lag zwei Tage mit offenem Brustkorb unter Trümmern und hat dort nicht durch Nase und Mund, sondern durch die offen liegende Luftröhre geatmet. "Es ist unglaublich", sagt Wilsos. "Aber sie wird überleben."