Erdbeben in Haiti Sean schrie zwölf Stunden lang

  • von Manuela Pfohl
Beim Erdbeben von Haiti haben unzählige Kinder ihre Eltern verloren und irren nun allein durch die Straßen. Andere sind in überfüllten Waisenhäusern untergebracht. Ohne internationale Hilfe wären viele von ihnen verloren.

Manche Kinder liegen nur so da, ganz still, wie Puppen. Andere wiederum weinen so lange, bis der Schmerz oder die Angst sie ohnmächtig werden lässt. Sean gehört dazu. "Als der Siebenjährige nach dem Erdbeben ins Feldlazarett gebracht wurde, schrie er zwölf Stunden lang. Nichts und niemand konnte ihn beruhigen", erzählt Tamar Hahn, die als Unicef-Mitarbeiterin in Port-au-Prince unterwegs ist. Womit hätte der Junge auch getröstet werden können. Sean hat alles verloren. Seine Eltern, sein Zuhause, sein Vertrauen in das Leben.

Jetzt kauert er zwischen all den anderen Kindern, die im eilig eingerichteten Lazarett, gleich neben dem Leichenschauhaus, gelandet sind. Sie sitzen oder liegen dicht gedrängt auf schmutzigen Decken, mit blutgetränkten Verbänden, die nicht gewechselt werden können, weil es kein sauberes Material mehr gibt. Von vielen wissen die Pfleger nicht einmal die Namen. Sie wissen nur, dass die Mädchen und Jungen Unbeschreibliches erlebt haben. Dinge, die sie nie wieder vergessen werden.

Kinder schlafen neben Leichen

"Keine Generation haitianischer Kinder in den vergangenen hundert Jahren hat ein Desaster von solchem Ausmaß erlebt", meint Gareth Owen von der britischen Kinderhilfsorganisation Save the Children. Besorgt ist er vor allem über Berichte, denen zufolge kleine Kinder verwirrt und ohne Orientierung durch die Straßen laufen und nachts neben den Leichen der Erdbebenopfer schlafen.

Sean hat keine äußeren Verletzungen. Eigentlich müssten die Ärzte ihn entlassen. Jeder Platz im Lazarett wird gebraucht, für die, die medizinische Hilfe nötig haben. Aber wo soll der Junge hin? Wer wird sich um ihn kümmern? Wovon soll er leben? "Es gibt hunderte, wenn nicht gar tausende Kinder, die jetzt, nachdem sie ihre Angehörigen verloren haben, völlig auf sich allein gestellt sind", fürchtet Tamar Hahn. Noch sei gar nicht abzuschätzen, wie groß die Zahl der entwurzelten Kinder sein wird - und wie man ihnen helfen kann. Denn das Beben hat kein zuvor gut funktionierendes Gemeinwesen getroffen.

Charitable zögerte keine Sekunde

Einer UN-Studie zufolge hatten Kinder in Haiti schon vor dem Beben die schlechtesten Überlebenschancen in der gesamten westlichen Hemisphäre. Mehr als anderthalb Millionen Kinder und Jugendliche in den größeren Städten litten unter Hunger. Allein in Port-au-Prince lebten schätzungsweise 2000 Kinder auf der Straße. Hunderttausende wurden von ihren meist mittellosen Familien als billige Arbeitskräfte in die Haushalte der Reicheren verkauft. Jetzt irren sie auf den Straßen umher und wenn sich nicht die ausländischen Hilfsorganisationen um sie kümmerten, wären viele von ihnen verloren.

Charitable Mifort kennt das. Seit Jahren kämpft sie gegen das Elend an und kann doch nicht viel mehr tun, als es gemeinsam mit ihren Kolleginnen in einem Waisenhaus von Delmas zu verwalten. Als die Erde bebte und in der 700.000 Einwohner zählenden Stadt nahe Port-au-Prince alles zugleich zusammenbrach, zögerte Charitable dennoch keine Sekunde. Zu den 69 Kindern, die das Heim bislang schon mehr schlecht als recht versorgte, nahm sie binnen Stunden 36 weitere auf.

"Anfangs", so erzählt sie den Helfern von World Vision, die inzwischen zur Unterstützung eingetroffen sind, "da wussten wir überhaupt nicht, wie wir das alles schaffen sollten". Denn viele Kinder sind nicht nur unglaublich erschöpft. Sie haben die typischen Hungerkrankheiten, wie Durchfall, Erbrechen und Hautausschlag. Auf dem lokalen Markt versuchten die Heimmitarbeiter das Nötigste für die vielen zusätzlichen Kinder zu besorgen, um den größten Hunger zu stillen. "Doch die Preise für Nahrungsmittel sind nach dem Beben so explodiert, dass wir es uns einfach nicht leisten konnten, alle Kinder zu versorgen."

Angst vor Kinderhändlern

Jetzt, wo die Kinderhilfsorganisation World Vision da ist, hat Charitable wieder Zuversicht bekommen. Von einem Zwischenlager im Grenzort Jimani in der Dominikanischen Republik aus kommen täglich Wasserkanister, Zeltplanen, Decken, Medikamente und natürlich Nahrungsmittel per Lastwagen zu den Bedürftigen. Ein erster Schritt in die Zukunft für Charitable und "ihre" Kinder.

Nachdem World Vision von der UN um entsprechende Unterstützung gebeten wurde, organisiert das Kinderhilfswerk zusammen mit Unicef aber auch Hilfe für unbegleitete und traumatisierte Kinder. So wird unter anderem die Einrichtung von Kinderbetreuungszentren vorbereitet. Denn schon ist von ersten Übergriffen auf Kinder zu hören. Das entwicklungspolitische Kinderhilfswerk Terre des Hommes warnt vor Kinderhändlern und Schleppern, die Notlagen, wie die in Haiti ausnutzen, um die schwächsten Opfer der Katastrophe für ihre Zwecke zu missbrauchen, und sie beispielsweise als Sexsklaven zu verkaufen. "Wir brauchen deshalb dringend Schutzmechanismen und konkrete Angebote, um die verlassenen Kinder vor Verbrechen wie Kinderhandel und illegaler Adoption zu schützen", sagt Geschäftsführerin Danuta Schäfer.

Mehr als 400 Millionen Euro stellt allein die Europäische Union für die Erdbebenopfer zur Verfügung. US-Präsident Obama kündigte ein 100-Millionen-Dollar-Hilfspaket an. Der Wiederaufbau der Infrastruktur und die medizinische Versorgung der Opfer sollen schnellstmöglich gesichert werden, um das Leben in Haiti wieder möglich zu machen. Doch wer wird Sean in den Arm nehmen?

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