Ernährung Ein Körnchen Wahrheit

Entgegen verwirrender Studien ist richtig, dass Ballaststoffe vor Krankheiten schützen können. Nicht richtig ist, dass Getreide und Co. hierfür am besten geeignet sind.

Schwarzbrot statt Croissants, dicke Bohnen statt Spaghetti, Frischkorn-Brei statt Muffins - es klingt nicht gerade nach höchsten Gaumenfreuden, wenn Gesundheitsexperten den Speiseplan für eine ballaststoffreiche Ernährung verlesen. Tausende von Bundesbürgern kauen dennoch seit Jahrzehnten täglich tapfer ihre Körner, Kleie oder Sprossen. Schließlich gilt es seit den siebziger Jahren als erwiesen, dass Ballaststoffe das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, erheblich reduzieren. Der Epidemiologe Denis Burkitt hatte damals herausgefunden, dass die Menschen in Uganda und Mozambique zehnmal seltener an einem Kolonkarzinom erkrankten als Europäer oder Amerikaner. Der Grund lag für ihn auf der Hand: Die meisten Afrikaner nahmen viel größere Mengen an Ballaststoffen mit der Nahrung zu sich als die Bevölkerung in Schottland oder den USA. Hunderte von Studien schienen den Zusammenhang zwischen vermehrter Ballaststoffzufuhr und niedrigerem Darmkrebsrisiko seither zu bestätigen. Und längst boomt das Geschäft mit den für den Menschen unverdaulichen Nahrungsfasern: Die Regale der Supermärkte werden überschwemmt mit immer neuen Kreationen von Müsli-Schnitten und "Frühstücks-Cerealien" in allen nur denkbaren Geschmacksvarianten.

In jüngerer Zeit jedoch hat die Ballaststoff-Fraktion herbe Rückschläge erlitten. Gleich zwei der bis dahin größten Langzeitstudien mit mehr als 130 000 amerikanischen Frauen kamen zu einem niederschmetternden Ergebnis: Ob die untersuchten Personen mehr Ballaststoffe oder weniger zu sich genommen hatten - in beiden Vergleichsgruppen war der Anteil der Frauen, bei denen die Forscher Vorstufen von Darmkrebs (so genannte Polypen) fanden, jeweils etwa gleich hoch. Mehr noch: Von denen, die besonders niedrige Ballaststoffmengen zu sich genommen hatten, wiesen sogar eher weniger Frauen gefährliche Darmpolypen auf. Die Konsumenten sind nun zu Recht irritiert: Sind Kleie, Körner und Co. doch nicht so gesund?

Verschiedene Arten von Balaststoffen

Dass es zu solch krassen Widersprüchen kommt, ist für die Ernährungswissenschaftlerin Hannelore Daniel von der Technischen Universität München kein Wunder. "Die meisten dieser Studien gehen von sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen der Probanden aus." Denn: Was in den USA als hoher Ballaststoffkonsum gilt, liegt in Europa schon am unteren Ende der Skala. Und wenn - wie in einer der beiden Studien - das Durchschnittsalter der Teilnehmer 62 Jahre beträgt, liegen die maßgeblichen Ernährungssünden womöglich allein in der Vergangenheit. Zudem, so Daniel, sei in der Regel nicht einmal klar, "über welche Art von Ballaststoffen wir überhaupt reden". Ballaststoff ist nicht gleich Ballaststoff. Vielmehr verbirgt sich hinter dem Begriff eine Vielzahl pflanzlicher Stoffe von ganz unterschiedlicher Wirkung, die lediglich eines gemeinsam haben: Sie können nicht von körpereigenen Enzymen des menschlichen Magen-Darm-Traktes abgebaut werden und gelangen unverdaut in den Dickdarm.

Ein Teil der in der Nahrung enthaltenen Ballaststoffe, wie die in Früchten und Wurzeln enthaltenen Pektine, sind wasserlöslich. Sie werden schnell und fast komplett von den Bakterien im Darm, der so genannten Darmflora, abgebaut. Dabei entstehen Gase und kurzkettige Fettsäuren wie Essig- und Buttersäure, die größtenteils vom Darm aufgenommen werden können und dem Organismus unter anderem als Energiequelle zur Verfügung stehen. Der Energiegewinn ist allerdings so niedrig, dass er kaum ins Gewicht fällt.

Die wasserunlöslichen Ballaststoffe dagegen, darunter vor allem die in Hülsenfrüchten und Getreide enthaltene Zellulose, werden kaum von Mikroorganismen im Darm zersetzt, sondern fast vollständig mit dem Stuhl ausgeschieden. Wie alle Ballaststoffe können sie jedoch große Mengen von Wasser binden und erhöhen so das Volumen des Stuhls. Dadurch beschleunigen sie die natürliche Darmbewegung und sorgen dafür, dass der Speisebrei schneller den Darm passiert.

"Beide sind wichtig", betont der Ernährungsexperte Claus Leitzmann von der Universität Gießen, für den die Lehre vom Ballaststoff-Segen keineswegs ein Mythos ist. Erst vor wenigen Monaten nämlich legten Forscher vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke Daten aus der weltweit größten Studie zum Zusammenhang zwischen Ernährung und chronischen Krankheiten vor, welche die Darmkrebs-These erneut stützen. Durch eine Erhöhung der täglichen Ballaststoffzufuhr von 15 auf 35 Gramm, so das Fazit, wurde das Krebsrisiko um 40 Prozent gesenkt.

Zudem gilt eines inzwischen als gesichert: Sowohl lösliche als auch unlösliche Ballaststoffe senken nicht nur den Cholesterinspiegel und helfen so mit, chronische Herzkrankheiten wie Arteriosklerose und Herzinfarkt zu verhindern. Sie schützen auch vor der Entstehung des Altersdiabetes (Typ II), an dem bei weitem nicht nur Rentner, sondern zunehmend auch schon Jugendliche und sogar Kinder erkranken.

Ballaststoffe als Cholesterinsenker

Der cholesterinsenkende Effekt erfolgt gleich auf zweierlei Wegen. Vor allem die wasserlöslichen Pektine gelangen über den Darm direkt in die Leber, wo sie die körpereigene Cholesterinproduktion drosseln. Der wasserunlösliche Anteil dagegen, darunter vor allem die Zellulose, bindet im Darm jene Gallensäuren, die der Körper als Emulgator für den Verdauungsprozess selbst herstellen muss - und zwar größtenteils aus dem im Blut enthaltenen Cholesterin. Die Folge: Der Darm kann die an Zellulose gebundenen Gallensäuren nicht mehr wiederaufnehmen. Die Leber muss daher vermehrt neue Gallensäure aus körpereigenem Cholesterin bilden, der Blutfettspiegel sinkt. Für mindestens ebenso wichtig hält Leitzmann, dass bei ballaststoffreicher Ernährung jene wiederholten Blutzucker- und Insulin-"Kicks" ausbleiben, in denen viele Mediziner heute eine der Hauptursachen der Zuckerkrankheit sehen. Anders als bei Keksen oder Hamburgern nämlich, kann der Körper die in Vollkornbrot, Gemüse und Obst enthaltenen Kohlenhydrate nur langsam aufschließen. Auf diese Weise gelangen die Zuckermoleküle nur relativ langsam vom Darm ins Blut. Wie bei Süßigkeiten oder Junk-Food schüttet der Körper zwar auch nach einer Vollwertmahlzeit vermehrt Insulin aus, um den Blutzucker vor allem in die Muskelzellen zu transportieren. Doch der Anstieg ist so moderat, dass der Körper nicht schon nach kurzer Zeit wieder das Signal "Hunger" sendet und die Zellen auf Dauer - wie bei den meisten Diabetikern der Fall - kaum mehr auf Insulin reagieren.

Die in den letzten Jahren drastisch ansteigende Zahl von Diabetes-Patienten in den Industrieländern weist jedoch darauf hin, dass bei der Ernährung vieler Menschen einiges im Argen liegt. Tatsächlich erreicht gerade einmal ein Fünftel aller Europäer die von den Fachleuten empfohlene Mindestration von 30 Gramm pro Tag. In den USA, wo die Zuckerkrankheit besonders stark grassiert, kommt praktisch niemand auf diese Menge. Selbst die Gruppe der Bevölkerung, welche die größte Ballaststoffmenge aufnimmt, kommt im Schnitt nur auf rund 20 Gramm. Solche Zahlen sind für viele Lebensmittelhersteller freilich ein gefundenes Fressen. Denn: Was läge näher, als dem Mangel mit einem breiten Angebot von Power-Riegeln und Ballaststoff-Snacks abzuhelfen? Einer solchen modernen Form von Ablasshandel erteilt die Münch- ner Professorin Hannelore Daniel jedoch eine klare Absage: "Derartige Fertigprodukte bewirken vor allem eines - sie beruhigen das Gewissen." Zudem gründen sie auf dem verbreiteten Irrtum, dass es bei einer ballaststoffreichen Ernährung vor allem auf Körner und Getreide ankomme. Dabei weist nach Ansicht von Hannelore Daniel einiges darauf hin, dass die in Gemüse, Früchten und Wurzeln enthaltenen wasserlöslichen Ballaststoffe für den Menschen nützlicher sind als die unlösliche Zellulose in Kleie und Schrot. Millionen Jahre habe er schließlich ein Dasein als Jäger und Sammler geführt, bevor er zum Bauern wurde. Der Körper sei viel- mehr auf eine Ernährung mit frischem Gemüse und Früchten ausgerichtet als auf Körner und Co.

Daran sollte sich auch der moderne Büromensch halten: Schon mit einem Apfel, zwei bis drei Scheiben Vollkornbrot und einem frischen Salat mit Paprika, Gurken und Bohnen am Tag kommt man wenigstens auf die empfohlene Menge von 30 Gramm Ballaststoffen. Entscheidend ist dabei vor allem eines: Je weniger stark Gemüse und Früchte verarbeitet sind, desto besser. Denn bei jedem Produktionsschritt werden viele andere nützliche Pflanzenstoffe zerstört. Und: Frisch zubereitet schmeckt es auch besser.

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Cornelia Stolze

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