Rasputitsa – Zeit ohne Straßen General Schlamm – hält Tauwetter Putin von einer Invasion der Ukraine ab?

Irgendwann fassen die Reifen keinen Grund mehr und die Karosserie schwimmt im Schlamm auf.
Irgendwann fassen die Reifen keinen Grund mehr und die Karosserie schwimmt im Schlamm auf.
© Commons
1941 versanken die deutschen Divisionen vor Moskau im Matsch. Nun wird spekuliert, dass auch Putin harten Bodenfrost benötigt, damit seine Panzer rollen können. Aber bei dieser Annahme wird einiges vergessen. 

Marschiert er ein oder lässt er es bleiben? Das weiß bei Putin niemand so genau, diese beklemmende Unsicherheit hat Joe Biden in den Satz gebracht, das käme darauf an, auf welcher Seite des Bettes Putin aufstehen würde. Zu den bekannten Kremlologen im Weißen Haus sind nun auch noch die Meteorologen gekommen - sie wollen voraussagen, wann Putin angreifen könnte und die Zeiträume benennen, in denen es unmöglich ist.

Panzer brauchen Frost

Ein politischer Tabu-Zeitraum soll die Winter-Olympiade sein. Die Logik dahinter: Putin mag einen Dritten Weltkrieg riskieren, aber seinem Kumpel in Peking wird er nicht die Winterspiele ruinieren. Die anderen Zeiträume hängen tatsächlich vom Wetter ab. Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs sagt: Zwischen Herbst und Frühjahr muss es im Gebiet der ehemaligen UdSSR richtig frieren, damit die Panzer rollen können. Das ganze Gebiet bis nach Moskau ist weitgehend flach und eben, auch wenn es vereinzelte Erhöhungen gibt. Das führt dazu, dass starke Niederschläge nicht abfließen. Wasser, das nicht mehr versickern kann, bleibt wie in einer flachen Schüssel einfach stehen und diese Schüssel füllt sich dann mit Schlamm.

Im Herbst sorgen Regenfälle für die Schlammschicht, im Frühjahr kann es noch ärger werden. Nämlich dann, wenn der Boden nach einem kalten Winter in der Tiefe gefroren ist und im Frühjahr der Schnee und die erste Bodenschicht auftaut. Dann gibt es oben Matsch, der unten vom Frost versiegelt wird. Es gibt einen Namen für das Phänomen: Rasputitsa, die "Zeit ohne Straßen".

Ein Meer aus Schlamm

Dieses Phänomen setzte schon Napoleon und dann der Deutschen Wehrmacht beim Marsch auf Moskau zu. "Die Straßen wurden schnell zu Kanälen aus bodenlosem Schlamm, auf denen unsere Fahrzeuge nur im Schneckentempo und mit großem Verschleiß der Motoren vorankommen konnten", klagte der deutsche Panzergeneral Heinz Guderian im Oktober 1941. "Den ukrainischen Schlamm im Frühjahr muss man gesehen haben, um es zu glauben", schrieb ein britischer Journalist 1944. "Das ganze Land ist überschwemmt, und die Straßen sind wie Flüsse aus Schlamm, oft zwei Fuß tief."

Bekannt sind die Aufnahmen, bei denen die Lkw-Kolonnen bis weit über die Achsen im Matsch versanken. Aber auch die Offensiven der Roten Armee hingen vom Wetter ab, in dem Moment, in dem der Boden zu tauen begann, war an schnelle Operationen nicht zu denken.

Vorhandenes Straßennetz

Die Frage ist nun: Stellt sich das Problem auch heute für Putin? Zuerst einmal erleben wir im Gebiet der Ukraine derzeit keinen kalten Winter, einen harten Umschwung von tiefgefrorenem Boden und dann strahlendem Sonnenschein wird es nicht geben. Derzeit liegt die Temperatur in Kiew häufig über null, selbst in den Separatistengebieten im Osten sinkt die Temperatur selten unter den Gefrierpunkt. Auch wenn es nicht zu einer Schlammfalle wegen des Taus kommt, bedeutet es aber auch, dass der Boden jetzt nicht gefroren ist.

Nur macht das weit weniger aus als im Zweiten Weltkrieg. Damals war das Straßennetz in der UdSSR außerordentlich schlecht ausgebaut. Auch Hauptverkehrsstraßen waren häufig keine befestigten Straßen mit fester Decke und stabilisierendem Unterbau. Unter der Belastung der Wehrmachtsfahrzeuge und bei dem feuchten Wetter lösten sich der lediglich festgestampfte und verdichte Untergrund einfach auf, die "Straße" selbst verwandelte sich in Matsch. Darunter litt nicht allein die Kampftruppe, sondern vor allem der Nachschub.

Die Ukraine mag nicht die modernste Infrastruktur Europas haben, aber sie ist komplett von Straßen erschlossen – abgesehen von Naturreservaten. Gerade wegen der Schlammperiode besitzen auch verstreute Siedlungen ein Netz von gedeckten Wegen. Man kann sich die Videos der Kämpfe in der Ostukraine ansehen, um das bestätigt zu sehen. Selbst die schäbigen Datschen kleiner Siedlungen liegen an Straßen. Ohne Gehweg, die Stromversorgung mit Masten, aber mit einer asphaltierten Fahrbahn. Was heißt das? Konvois und Nachschub würden im Falle einer Invasion nicht im Schlamm, sondern auf Beton oder Asphalt fahren. Nur bei den eigentlichen Kämpfen müsste die Truppe auf das freie Feld ausweichen.

Ein schlechter Grund würde beide Seiten behindern. Im Wesen des modernen Krieges liegt es bekanntermaßen, dass der Angreifer sich schnell und überraschend bewegt. Es ist jedoch eine Vorstellung aus Hollywoodfilmen, dass die Verteidiger in ihren Bunkern auf den Gegner warten können. Im Gegenteil: Die überlegene Seite zwingt dem Gegner Lagen auf, in denen er seine Truppen bewegen muss. Käme es zu einer Invasion, müsste Kiew seine Truppen vermutlich mehr verlagern als Russland. Die Ukraine ist von fast allen Seiten umstellt. Bei einer echten Invasion würde der Kreml die Angriffe so ansetzen, dass Kiew seine ohnehin unterlegenen Truppen im Land verlegen muss, um dem russischen Schwerpunkt zu begegnen.

Allrad-Lkw statt Pferdewagen

Dann sieht der Fuhrpark 2022 ganz anders aus als 1941 bis 1945. Das wichtigste Verkehrsmittel der Wehrmacht war nicht der Panzer, sondern das Pferdegespann. Seine Rolle würden in der russischen Armee Allrad-Lkw übernehmen. Dazu kommt, dass die russischen und auch die ukrainischen Panzer ein geringeres Gewicht haben als Leopard und Co. Sie sind relativ stark motorisiert und benutzen breite Ketten, um den Bodendruck zu verteilen. Natürlich wird es immer wieder passieren, dass ungeübte Fahrer mit ihrem Panzer bei Steigungen auf nassem Erdreich abrutschen und auch umstürzen, solche Einzelfälle würden eine Invasion kaum behindern. Und eine Lage wie 1945 in der deutschen Plattenseeoffensive, in der die Fußsoldaten bei jedem Schritt knietief in Schnee und Schlamm versanken, ist nach diesem Winter kaum zu erwarten.

 Der General Schlamm hätte auch heute noch Einfluss auf militärische Bewegungen, aber nicht in dem Maße wie im Zweiten Weltkrieg. Zumal beide Seiten für die speziellen Herausforderungen dieser Jahreszeit trainieren und ausgerüstet sind. Jeffrey Edmonds, CIA-Militäranalyst, kommt gegenüber "Business Insider" zum gleichen Schluss: "Schlammiges Gelände kann Operationen erschweren, stellt aber in keiner Weise ein echtes Hindernis da.“

"So etwas kann den Betrieb verlangsamen. Es kann die Logistik komplizierter machen, aber das sind Dinge, für die Russland trainiert. Das sind keine unüberwindbaren Hindernisse."

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