Die Ganzjahres-Frommen aller Konfessionen schauen meist mitleidig bis verächtlich auf die seltenen Gäste in der heiligen Halle. Ach, brauchen sie nun doch eine Nase voll Weihrauch oder ein, zwei anrührende Choräle auf die Ohren, um aus ihrer weltlichen Hektik zurück ins emotionale Gleichgewicht zu finden? Von der anderen Seite hauen Hardcore-Atheisten auf die Feiertagskirchgänger drauf und schmähen sie als Verräter am Erbe der Aufklärung. Wie kann man sich denn auch nur die rationale Blöße geben und sich freiwillig den süßlichen Weihnachtsschmus antun!
Frank Ochmann
Der Physiker und Theologe verbindet als stern-Redakteur natur- und geistes-
wissenschaftliche Interessen und befasst sich besonders mit Fragen der Psychologie und Hirnforschung. Im März erschien sein Buch "Die gefühlte Moral: Warum wir Gut und Böse unterscheiden können".
Es ist höchste Zeit, die Unsicheren, Suchenden, Fragenden, Ich-weiß-doch-auch-nicht-so-recht-Mitmenschen in Schutz zu nehmen. Nein, ihr braucht kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ihr euch einem inneren Gefühl oder auch nur einer Anregung aus dem Familenkreis folgend mit hochgestelltem Mantelkragen in die Kirchen schleicht und vielleicht davon träumt, es möchte doch noch einmal so werden wie früher. Ihr habt die Texte der Stillen Nacht und vom Ros’, das entsprungen ist, längst vergessen oder scheitert spätestens an der zweiten Strophe, aber wenn dann die Orgel durch’s Gewölbe dröhnt, werden euch die Augen feucht und Gänsehaut überzieht eure Glieder. Und warum, bitteschön, solltet ihr euch dafür rechtfertigen oder gar entschuldigen müssen?
Klänge für die Seele
Es gibt sogar wissenschaftlich fundierte Gründe, die das stützen, auch wenn das den Jüngern von Richard Dawkins kaum einleuchten und nur als neuer "Gotteswahn" erscheinen wird. Aber auch sie profitieren am Ende davon, wenn es unter uns einen Tick mitmenschlicher zugeht oder wenigstens sozial nicht noch kälter wird. Ob es blauäugig ist, vom Gefühl im Gestühl eine Wirkung auf’s Gewissen zu erwarten? Ist es nicht.
Kaum mehr lässt sich zum Beispiel bestreiten, dass Lieder mit aggressiven Texten oder nur mit "harten" Harmonien und Rhythmen einen entsprechend aufstachelnden Einfluss auf ihre Hörer haben, selbst wenn solche Effekte nicht überdauern. Der in England an der University of Sussex forschende und aus Deutschland stammende Psychologe Tobias Greitemeyer wollte wissen, ob das auch in umgekehrter Richtung funktioniert: Macht "gute" Musik gut? Könnte es die Seele erhellen, wenn sie von liebevollen Klängen geflutet wird?
Greitemeyer griff nicht zum Gesangbuch. Doch Lieder wie "Kommt zusammen" oder "Lachen und Weinen" der Gruppe "2raumwohnung" erfüllen den Zweck: Sie gehen leicht ins Ohr und propagieren eine Kuschelmentalität des Mit-, nicht Gegeneinanders. Die Experimente brachten klare Ergebnisse: Unter "prosozialem" musikalischem Einfluss, wie es wissenschaftlich korrekt heißt, wurden im Vergleich zur neutralen Beschallung nicht nur die Gedanken und Gefühle der Versuchsteilnehmer freundlich und friedlich. Sie handelten auch entsprechend und waren leichteren Herzens bereit, eine kleine Aufwandsentschädigung für ihre Teilnahme für einen vermeintlich guten Zweck zu spenden. Tatsächlich war die Spendenaktion Teil des Experiments, mit dem getestet werden konnte, wie weit sich die musikalisch gehobene soziale Gesinnung auch in entsprechend großzügigen Handlungen ausdrückte. Tatsächlich konnte die Spendebereitschaft so beinahe verdoppelt werden.
Zur Abwechslung mal an andere denken
Natürlich sinkt die hehre Stimmung womöglich schon auf dem Rückweg von der Christmette oder vom Weihnachtsgottesdienst. Aber spricht was dagegen, es überhaupt mal zu versuchen mit dem Gedanken an andere? Wir hatten in diesem sich neigenden Jahr reichlich Gelegenheit, die Vertreter der andern Seite zu beobachten, und nicht immer war einem dabei klar, ob das, was die Aktenlage zutage förderte, noch "antisozial" oder schon "asozial" war. Wenn Weihnachten ein Anlass sein kann, sich das noch einmal durch Kopf und Herz gehen zu lassen, dann sollte es so sein. Und niemand muss sich deshalb vorhalten lassen, uncool, naiv oder hoffnungslos sentimental zu sein. Wie schon gesagt: Die "coole" Seite haben wir in den vergangenen Monaten bis zum Erbrechen genießen müssen. Jetzt dürfen auch mal die anderen. Frohe Feiertage also den Un-, Vielleicht- und Ganz-und-gar-Gläubigen gleichermaßen!
Literatur:
Anderson, C. et al. 2003: Exposure to Violent Media: The Effects of Songs with Violent Lyrics on Aggressive Thoughts and Feelings, Journal of Personality and Social Psychology 84, 960-971 Dawkins, R. 2007: Der Gotteswahn, Berlin: Ullstein Greitemeyer, T. 2008: Effects of songs with prosocial lyrics on prosocial thoughts, affect, and behavior, Journal of Experimental Social Psychology 45, 186-190 Lundquist, L..-O. et al. (im Druck): Emotional Responses to Music: experience, expression, and physiology, Psychology of Music, online seit 15.10.2008