Kopfwelten zum Fall Kachelmann Unsere Suche nach Gut und Böse

Seit März ebbt das Medieninteresse am Fall Kachelmann nicht ab. Jede Wendung im Drama um den Vergewaltigungsvorwurf wird mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Aber was hat die Öffentlichkeit davon?

Hat Ihnen Herr Kachelmann persönlich etwas getan? Haben oder hatten Sie mit ihm ein Verhältnis der einen oder anderen Art? Kennen Sie vielleicht die Menschen, die ihn verklagt haben und ihm schlimme Verfehlungen wie Vergewaltigung oder Körperverletzung vorwerfen? Bei den allermeisten von uns wird das nicht so sein. Wir sind weder dem vermeintlichen Täter noch den vermeintlichen Opfern je begegnet, haben mit ihnen weder telefoniert noch korrespondiert. Was aber fasziniert uns dann so am strafrechtlichen Fall um den Fernsehwettermann Jörg Kachelmann? Jahrelang haben wir uns von ihm erzählen lassen, ob am nächsten Tag Blumenkohlwolken drohen, Pladderregen oder Blitzeis. Wir haben zwischendurch vielleicht gedacht, er sollte mal wieder zum Frisör oder die Hose ein wenig gefälliger über den Bauch ziehen, wenn er vor eine Kamera tritt. Persönlicher ist es zwischen ihm und uns nie geworden. Doch dann plötzlich interessiert sich die halbe Republik für Kachelmanns Sexleben, für wirkliche oder erfundene Geliebte, für echte oder vorgetäuschte Gewalt. Was daran ist so aufregend, was so faszinierend?

Schadenfreude als Motiv

Sind wir alle schamlose Voyeure? Wer sich für Sex oder speziell dessen sado-masochistische Variante interessiert, braucht sich in Zeiten fast uneingeschränkter pornografischer Produktion auf allen medialen Kanälen nun wirklich nicht mit den vagen Vermutungen über die mehr oder minder ausgefallenen Praktiken eines Wettermannes zu begnügen. Anschauungsmaterial ist in Wort, Bild und Ton und dazu noch kostenlos über unzählige Internetseiten zu beziehen. Jetzt und in beinahe beliebigen Mengen. Übrigens auch "Celebrity Sex", falls es jemanden besonders anmacht, einem berühmten Menschen bei der - so gut wie immer gefakten - geschlechtlichen Betätigung zuzuschauen. Kachelmanns Bekanntheitsgrad als sexuelles Stimulans kann nicht der entscheidende Grund für das starke Interesse an seinem Fall sein.

Frank Ochmann

Der Physiker und Theologe verbindet als stern-Redakteur natur- und geistes­wissenschaftliche Interessen und befasst sich besonders mit Fragen der Psychologie und Hirnforschung. Mehr auf seiner Homepage.

Schadenfreude ist da schon eher ein Motiv. Mancher empfindet es sicher als persönliche Genugtuung, wenn einer der "Großen" tief fällt, möglichst noch am eigenen bescheidenen Sozialstatus vorbei. Solches Gefallen am Missgeschick anderer hat auch etwas mit Gruppengrenzen zu tun, haben Psychologen beobachtet. Schadenfreude empfinden wir nämlich da besonders stark, wo die Gräben zwischen Menschen auch vor dem auslösenden Ereignis tief waren. Durch Neid zum Beispiel. Trifft das auf Kachelmann zu? Wäre er bei den Fernsehzuschauern immer schon unbeliebt gewesen und hätte vielleicht sogar allein durch sein Erscheinen auf dem Bildschirm die Quoten der folgenden Sendungen in den Abgrund gedrückt, wäre er längst verbannt worden. So war es aber nicht. Mag Schadenfreude aus irgendeiner alten Abneigung heraus also beim einen oder anderen Beobachter heute eine Rolle spielen, so erklärt sie für sich auch noch nicht das beachtliche Interesse der Öffentlichkeit am juristischen Fall von Jörg Kachelmann.

Lügt sie - oder er?

Natürlich ist sein Prominentenstatus wichtig. Sonst stünden ja vor jedem Gericht, in dem eine Vergewaltigungsklage verhandelt wird, Scharen von Medienleuten. Aber was genau an dieser Prominenz ist es, das unsere Blicke auf sich zieht? Dasselbe, das uns Krimis lesen und den "Tatort" schauen lässt: Die Lust an der Spannung und unser aus tiefster Seele entspringender Wunsch, dass doch das Gute bitte siegen möge! In diesem Sinne ist Kachelmann tatsächlich wie Kino.

Der prickelnde Genuss der Spannung - "Hat er nun? Oder hat er nicht? Lügt sie, oder lügt er?" - ist so selbstverständlich, dass wir darauf hier nicht eingehen müssen. Weitaus wichtiger ist der Wunsch nach dem Sieg des Guten. Und bei dem geht es auch nicht hauptsächlich um vergnügliche Gefühle, sondern um stabile Verhältnisse. Um Gerechtigkeit in dem Sinne, dass wir mit unserer Vermutung, was gut und böse ist, noch immer richtig liegen. Das nämlich ist von existenzieller Bedeutung, weil es der Maßstab ist, an dem sich unser Handeln und Verhalten ausrichtet.

Grundsätzliches Empfinden, was Recht ist

"Recht muss Recht bleiben", heißt es manchmal. Und genau bei diesem grundsätzlichen Gedanken treffen sich in unserem Empfinden der Fall Kachelmann, die Frage nach der Verantwortung für die Katastrophe der Duisburger Loveparade, der Tod von Dominik Brunner auf der S-Bahn-Station München-Solln oder auch die Debatte um den Ankauf von "Steuersünder"-Dateien durch den Staat. Dominik Brunner war kein Prominenter, und Adolf Sauerland war bis zur denkwürdigen Pressekonferenz nach der Loveparade vielleicht eine Provinzgröße, doch über die Grenzen des Ruhrgebiets hinaus hat ihn kaum jemand gekannt. Was all diese genannten Fälle verbindet, ist die Bedeutung der moralischen Fragen, um die es dabei geht: Vergewaltigung, Mord, Pflichtverletzung im Amt und Betrug in schweren Fällen. Diese unentschiedenen Fragen bringen uns in Wallungen und lassen uns gebannt auf den Ausgang der jeweiligen Fälle oder Verfahren blicken.

Es geht nicht einfach nur um "Sensationsheischerei" oder "Medienvoyeurismus", auch wenn die zweifellos eine Rolle spielen. Aber es ist viel zu einfach, damit den ganzen Rummel um herausragende Rechtsfälle wie die genannten erklären zu wollen. Der eigentliche Grund für das Interesse der Menschen an solchen Prozessen ist ein tieferer: Sie wollen wissen, ob das Fundament unserer Moral fest ist oder rissig und ob die einen von ihren Richtern besser oder schlechter behandelt werden als die anderen. Sie wollen wissen, ob noch "gut" ist, was gestern "gut" war. Sie wollen wissen, was gilt. Und danach werden sie sich richten.

Literatur:

  • Immordino-Yang, H. M. & Sylvan, L. 2010: Admiration for virtue: Neuroscientific perspectives on a motivating emotion. Contemporary Educational Psychology 35, 110-115
  • Leach, C. W. et al. 2003: Malicious Pleasure: Schadenfreude at the Suffering of Another Group. Journal of Personality and Social Psychology 84, 932-943
  • Ochmann, F. 2008: Die gefühlte Moral - Warum wir Gut und Böse unterscheiden können. Berlin: Ullstein
  • Singer T. et al. 2006: Empathic neural responses are modulated by the perceived fairness of others. Nature 439, 466-469
  • Takahashi, H. et al. 2009: When Your Gain Is My Pain and Your Pain Is My Gain: Neural Correlates of Envy and Schadenfreude. Science 323, 937-939

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