Es war eine besonders mutige Tat mit tragischen Folgen: Am 12.September 2009 half der Manager Dominik Brunner vier bedrohten Schülern - und musste dafür mit dem Leben zahlen. Der 50-Jährige starb an der S-Bahn-Station München-Solln, nachdem er brutal zusammengeschlagen worden war. Binnen Tagen wurde Brunner postum zum Helden der Nation erklärt, zu einem leuchtenden Vorbild für Engagement, Bürgersinn, Zivilcourage. Er erhielt das Bundesverdienstkreuz, eine Dominik-Brunner-Stiftung, die sich für Zivilcourage einsetzt, wurde gegründet, im Kuratorium sitzen FC-Bayern-Präsident Uli Hoeness und auch die Schauspielerin Maria Furtwängler.
Spätestens seit dem Beginn des Prozesses gegen Brunners mutmaßliche Mörder Mitte Juli jedoch wird über das Bild des Managers mitunter erbittert gerungen, denn Zeugenaussagen legen nahe, dass sich Brunner womöglich nicht in jeder Phase der Auseinandersetzung bemüht hat, den Konflikt zu beschwichtigen. Außer Frage steht zwar, dass er mutig handelte, als er in der S-Bahn vier Schüler in seine Obhut nahm, die von zwei Jugendlichen bedroht worden waren. Aber umstritten ist, welche Rolle Brunner bei der späteren tödlichen Auseinandersetzung genau spielte. Als wahrscheinlich darf gelten, dass der Manager am S-Bahnhof den ersten Schlag gegen einen der beiden Jugendlichen führte. Aber was bedeutet das? Und in welchem Kontext tat er das? Versuchte er, sich in einer ausweglosen Kampfsituation einen Vorteil zu verschaffen? Oder wäre es ohne sein Zutun gar nicht zu der Prügelei gekommen? Und was bedeuten jene Worte Brunners, die er seinen Gegnern laut Tonbandaufnahme der Polizei-Notrufzentrale zurief: "Oan derwischt's jetzt" und "I nimm oan mit, i nimm oan mit!"?
Der S-Bahn-Fahrer sieht Brunner als Angreifer
Einfach ist die Rekonstruktion der Umstände dieses ersten Schlages nicht. Viele Zeugen haben sich in dem Prozess widersprochen, machen zweifelhafte Aussagen. Und so kristallisiert sich nur langsam ein Bild heraus. Die meisten Zeugen, darunter auch einige der Schüler selber, haben ausgesagt, Brunner habe nur den ersten Schlag geführt, weil die 17- und 18-jährigen Täter Sebastian und Markus drauf und dran waren, ihn anzugreifen. Einzig der S-Bahnfahrer widerspricht: Er will gesehen haben, dass die Jugendlichen überhaupt nicht vorhatten, Brunner oder die Schülergruppe zu attackieren.
Dass den Verteidigern der Angeklagten daran liegt, Brunner als Angreifer erscheinen zu lassen, um die Rolle ihrer Mandanten in ein anderes Licht zu rücken, liegt auf der Hand. Außerhalb des Gerichtssaals jedoch stößt jedwede Infragestellung Brunners, jedweder Zweifel an der bisherigen Darstellung des Tathergangs auf massive mediale Gegenwehr. Insbesondere die "Bild"-Zeitung versteht sich offenbar als Schutzschild eines bestimmten Brunner-Bildes. Das Blatt hat es sich zur Aufgabe gemacht, jeglichen Zweifel an dem "S-Bahn-Helden" abzuwehren. Unter der Überschrift: "Unglaublich! Wird dem toten Dominik Brunner die Ehre geraubt?" wetterte Bild vor einigen Tagen: "Medien spielen das Verbrechen am Münchner S-Bahn-Helden herunter". Und am Tag nach dem Auftritt des S-Bahnfahrers konzentrierte sich die Zeitung auf die Schilderungen einer Zeugin, die "berichtete wie Brunners Killer schrie". Dem S-Bahnfahrer widmete sie dagegen nur einige Sätze am Ende des Artikels. Viel mehr Platz erhielten Prominente wie Uli Hoeneß, die auf "Bild"-Linie sind: "Es kann nicht sein, dass jetzt Täter und Opfer verwechselt werden", wurde der erboste FC Bayern-Präsident zitiert. Trotzig schrieb "Bild" deshalb: "Für viele Prominente bleibt er der S-Bahn-Held." Unterstützung bekam das Blatt von der Münchner Boulevardkonkurrenz. Die "tz" ließ sogar einen "menschlichen Lügendetektoren" sagen, dass dem S-Bahnfahrer nicht zu glauben sei.
"Die Familie hat nicht darum geben, ihn zum Helden zu machen"
Die Familie des als zurückhalten beschriebenen Brunners sieht die Diskussion über den Heldstatus des Getöteten pragmatisch. "Keiner der Familie Brunner hat darum gebeten, aus ihm einen Helden zu machen", sagte die Anwältin von Brunners Vater stern.de. Viel wichtiger als die Frage nach dem Grad des Heldentums ist ohnehin die Frage, ob das Verhalten des Mannes aus Ergoldsbach vorbildhaft war. Denn schon kurz nach seinem Tod hatten viele Experten zwar Brunners Absicht gehuldigt, den Schülern zu helfen und nicht wegzusehen. Doch schon damals hieß es, die beste Taktik in einer solchen Situation sei die Deeskalation. Diese Ansicht vertritt auch die "Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes" in Stuttgart. "Wir empfehlen Helfern immer, Täter auf keinen Fall zu provozieren und nicht selber aktiv zu werden oder gar selber anzugreifen", sagt Andreas Mayer, Geschäftsführer der Einrichtung. "Wir raten auch, sich nicht zwischen Täter und Opfer zu stellen, vor allem dann nicht wenn Waffen im Spiel sind oder es mehrere Angreifer sind."
Die Dominik-Brunner-Stiftung hält eine ähnliche Handlungsanweisung auf ihrer Homepage bereit: "Es empfiehlt sich eher, auf das Opfer einzugehen und Hilfe anzubieten, als den Täter direkt anzusprechen. Dadurch kann man vermeiden, selbst attackiert zu werden. Es gibt Situationen, in denen Täter offensichtlich stärker und zu jeder Art von Gewalt bereit sind." Genau in diese Lage scheint Dominik Brunner geraten zu sein. Die beiden Jugendlichen waren zu stark für ihn. Womöglich hatte er seine Fähigkeiten überschätzt. Vielleicht hatte er sich aber auch von dem Aussehen der beiden täuschen lassen. Denn Markus S. und Sebastian L., das zeigte sich im Gerichtssaal, sind schmächtig und wirken harmlos. Und so könnte es sein, dass Brunner sogar ein doppelt tragischer Held ist. Einmal, weil er sterben musste, weil er sich für andere einsetzte, zum zweiten aber, weil er möglicherweise nicht hätte sterben müssen, wenn er sich selbst ein wenig anders verhalten hätte - ohne auf ein Eingreifen zu verzichten.
In diesem Zusammenhang entfalten auch die Aussagen des Rechtsmediziners Wolfgang Keil eine besondere Tragik: Denn seiner Ansicht nach wäre Brunner an den Folgen der Schläge alleine nicht gestorben. Doch die Aufregung und der Stress der Prügelei führten zu Herzkammerflimmern und dann zu einem letztlich tödlichen Herzstillstand.
Eine wichtige Debatte
Klar ist, dass Brunner auf dem Bahnsteig in wenigen Sekunden entscheiden musste, wie er die Schülergruppe beschützen wollte. Deshalb meint Präventionsexperte Meyer, sei es ungerecht und falsch, Brunners Verhalten im Nachhinein zu kritisieren. "Es wäre schlimm, wenn dadurch der Eindruck entstehen würde, dass sich Zivilcourage nicht lohnt", befürchtet Mayer. Der Kriminaloberrat sieht allerdings auch positive Seiten an der intensiven Diskussion über den Fall Brunner: "Es ist gut und richtig, dass in der Öffentlichkeit und auch von den Medien sachlich analysiert wird, wie Brunner gehandelt hat. Denn durch die Aufarbeitung des Falles kann man erkennen, was Leute in ähnlichen Situationen vielleicht künftig besser machen könnten."