Die Wahrheit ist manchmal kaum zu glauben: Mehr als die Hälfte der Schwulen und Lesben in Deutschland verschweigt am Arbeitsplatz ihre sexuelle Orientierung. Zu dieser Erkenntnis kam im vergangenen Jahr der Kölner Psychologe Dominic Frohn in seiner Studie "Out im Office?!". Die Untersuchung ist zwar nicht repräsentativ, spiegelt also vermutlich nicht exakt die Verhältnisse in Deutschland wider. Doch der Befund bleibt in seiner Deutlichkeit frappierend, steht er doch in krassem Widerspruch zur gefühlten Toleranz im Lande. Heimlich homosexuell von nine to five, beim Feierabendbier mit den Kollegen, bei der Weihnachtsfeier - dieses Bild will so gar nicht passen zum Selbstbild einer pluralistischen Gesellschaft, in der jeder nach seiner Fasson glücklich werden soll.
Diskriminierung ist die Regel, nicht die Ausnahme
Hinzu kommt: Schwule und Lesben haben nach dieser Studie allen Grund, eben nicht überall "out", also offen homosexuell, zu sein. Diskriminierung ist die Regel, nicht die Ausnahme: Mehr als drei Viertel der 2230 online Befragten hatten nach eigenen Angaben schon einmal am Arbeitsplatz darunter zu leiden. Sie mussten sich Schwulenwitze anhören oder wurden verbal angegriffen, mehr als acht Prozent erlebten sogar körperliche Attacken.
Zu ähnlich deutlichen Ergebnissen kam ebenfalls im vergangenen Jahr das schwule Anti-Gewalt-Projekt Maneo aus Berlin in einer Studie. Ein Drittel von rund 24.000 Befragten war demnach in den zwölf Monaten zuvor Opfer schwulenfeindlicher Gewalt geworden (wobei auch hier verbale Gewalt ausdrücklich miterfasst wurde). Bei den Jugendlichen unter 18 waren es sogar 63 Prozent. Von körperlicher Gewalt mit schweren Verletzungen berichteten 1,3 Prozent der Befragten (mehr als 300 Menschen), 4,6 Prozent trugen Blessuren davon, und 9,7 Prozent waren angegriffen worden, blieben aber unverletzt (Mehrfachnennungen waren möglich).
Rund zwei Drittel der Bevölkerung befürworten die "Homo-Ehe"
Schwule und Lesben wissen sehr genau, dass Homosexualität noch lange keine Selbstverständlichkeit ist. Und trotzdem sind nicht nur tolerante Heteros von den genannten Studien überrascht. Irgendwie schien der Prozess der "Normalisierung", wie Sozialforscher es nennen, doch schon deutlich weiter fortgeschritten. War die Sache mit der Diskriminierung nicht eigentlich fast schon erledigt? Schließlich kommen Homosexuelle doch heutzutage in jeder Fernsehserie vor, können eingetragene Lebenspartnerschaften schließen und dürfen sich auf ein Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) berufen. Rund zwei Drittel der Bevölkerung befürworten die "Homo-Ehe", schwule Männer gelten als kaufkräftige Trendsetter, und der Regierende Bürgermeister der Hauptstadt hat es nicht zuletzt durch sein Coming-out zu enormer Beliebtheit gebracht. Alljährlich berichten öffentlich-rechtliche Sender freundlich von der öffentlichen Jahreshauptversammlung der Homosexuellem, dem Christopher Street Day. Und das soll nun alles plötzlich nicht mehr wahr sein?
Es handelt sich eben nur um die halbe Wahrheit. Sicher, die Emanzipation von Homosexuellen ist seit Beginn der modernen Schwulen- und Lesbenbewegung Anfang der 70er Jahre weit vorangeschritten. War Homosexualität bis dato ein schwerer Makel, der ein verschämtes Doppelleben nach sich zog, taugt sie heute zur Bildung einer selbstbewussten Identität. Prominente wie Thomas Hermanns (Quatsch Comedy Club) oder Hape Kerkeling - sein Outing durch Rosa von Praunheim war 1991 noch ein Skandal - tragen erheblich dazu bei, dass Homosexualität immer weniger Anstoß erregt. Mit Anne Will ist nun sogar eine der renommiertesten Fernsehfrauen des Landes offen lesbisch. Doch ihr Coming-out zeigt auch, dass alles doch noch nicht so einfach ist. Warum hätte sie sonst so lange gezögert, diesen Schritt zu tun?
Fröhliche Vorzeigepromis und bunte Bilder von CSD-Paraden sind zwar ein gutes Zeichen, verstellen aber auch den Blick darauf, dass vieles weiterhin im Argen liegt. Von "Normalität" kann noch lange nicht die Rede sein. Der Lackmustest hierfür wäre schließlich die Frage, ob sich jeder und jede frei für das eine oder andere Leben entscheiden kann, als ginge es um die Wahl des Studienfaches oder der Stadt, in der man wohnen möchte.
"Schwul" ist auf deutschen Schulhöfen das beliebteste Schimpfwort
Davon ist die Gesellschaft weit entfernt. Laut einer repräsentativen Studie des Soziologen Wilhelm Heitmeyer finden 17,3 Prozent der Deutschen Homosexualität unmoralisch. "Schwul" ist auf deutschen Schulhöfen das beliebteste Schimpfwort, bei angesagten Rappern und ihren jugendlichen Fans gehört das Homo-Dissen zum guten Ton. Und bei einer Befragung von Jugendlichen in Berliner Gymnasien und Gesamtschulen kam kürzlich ans Licht: Rund die Hälfte der Jungs findet es noch immer ekelhaft, wenn zwei Männer sich küssen. Jugendliche mit Migrationshintergrund - etwa junge Deutschtürken - sind noch bedeutend homophober.
Das ist die ganze Wahrheit: Diskriminierung ist heutzutage verpönt - und gleichzeitig Alltag. Dabei scheint ironischerweise die Emanzipation selbst einen Beitrag zu verstärkter Homophobie zu leisten. Wo Homosexuelle sich selbstbewusst zeigen, wird latente Homofeindlichkeit angefacht und tritt erst dann offen zu Tage. Das erklärt auch, weshalb in schwulen Hochburgen wie Berlin-Schöneberg besonders viele Gewalttaten gegen schwule Männer registriert werden: Sie sind dort nicht zu übersehen. "Fortschrittsopfer" nennt diesen Effekt der renommierte Sexualwissenschaftler Martin Dannecker. In der Politik geht es derweil nur mit Trippelschritten voran. Ab und zu wird die eingetragene Lebenspartnerschaft in neuen Detailfragen mit der Ehe gleichgestellt. So gilt zum Beispiel seit kurzem bei Erbschaften ein einheitlicher Freibetrag von 500.000 Euro - nachdem verpartnerte Homos bislang wie Fremde veranlagt wurden, wenn einer der beiden gestorben war. Die neue Regelung ist eine wichtige Erweiterung der Homo-Ehe - aber das war's dann auch erst mal wieder.
Die CDU will keine gleichen Rechte für Schwule und Lesben
Ohnehin ließ sich die CSU nur zähneknirschend zu diesem Beschluss der Großen Koalition bewegen. Schließlich klagt Bayern noch immer vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die "Stiefkindadoption", einen Teil der eingetragenen Lebenspartnerschaft. Und auch die CDU ist nicht willens, Schwulen und Lesben gleiche Rechte einzuräumen. Zwar "respektiert" sie nach ihrem neuen Grundsatzprogramm erstmals ausdrücklich gleichgeschlechtliche Partnerschaften - von umfassender Gleichstellung im Steuer- und Adoptionsrecht wollen die Christdemokraten aber nichts wissen. Ein Asylrecht für Schwule und Lesben, die in ihrer Heimat verfolgt würden, gelang in der letzten Legislaturperiode nicht einmal der rot-grünen Bundesregierung - es fiel dem Geschacher ums Zuwanderungsgesetz zum Opfer. In den wesentlichen Fragen dürfte nun erneut Stillstand herrschen - mindestens bis zur nächsten Wahl. So macht die Gesellschaft noch lange nicht ernst mit dem Respekt, den sie Schwulen und Lesben jederzeit gerne zusagt. Am schwersten wiegt die Ignoranz dabei vielleicht dort, wo fortwährend die Weichen für die Zukunft gestellt werden: In deutschen Schulen steht das Thema nach wie vor nur selten auf dem Lehrplan. Stattdessen - auch das ist belegt - lachen viele Lehrer gerne mal mit, wenn ein Schwulenwitz gemacht wird. Wie viele homosexuelle Schülerinnen und Schüler sich lieber versteckt halten, hat bislang niemand untersucht. Es dürften überraschend viele sein.