Nun ist es vorbei mit dem sorgenfreien Eisbären-Leben im Nürnberger Tiergarten. Flocke ist inzwischen bald ein halbes Jahr alt und muss sozusagen eingeschult werden, sagt ihr Pfleger Horst Maußner. "Sie hat uns in den vergangenen Wochen gezeigt, sie will jetzt selbstständig werden." Nun werden sich die Pfleger schrittweise von ihr zurückziehen. Das ist umso schwieriger für die Bärin, als sie derzeit "eine dicke Backe hat", weil sie Zähne bekommt. Ihr rechter Kiefer ist angeschwollen, sodass sie das rechte ihrer schwarzen Knopfaugen kaum öffnen kann. Flocke schreit zum Herzerweichen, zum Teil wohl aus Schmerz, zum Teil, weil Pfleger Maußner nicht mehr mit ihr in das Freigehege geht und sie ihren Mutterersatz vermisst. Doch Maußner bleibt hart.
Flocke ist in das Eisbären-Flegelalter gekommen. Auf der Suche nach Milch beschränkt sie sich nicht mehr auf liebevolles Betteln, berichtet ihr Pfleger, sondern versucht schon mal, das Füttern zu erzwingen. Noch vor einigen Wochen hat er sie einfach weggeschubst, doch das schreckt Flocke inzwischen nicht mehr ab. "Sie drängelt jetzt aktiver, wie um zu sagen, ich will das jetzt, egal, ob du mich wegschubst oder nicht." Dieser Trotz kann bei dem inzwischen 39 Kilogramm schweren Bären gefährlich werden, denn einem Biss oder einem Prankenhieb von Flocke haben Maußner und seine drei Kollegen nicht viel entgegenzusetzen.
Eine Eisbärenmutter würde die Frechheiten mit Bissen und Schlägen beantworten, sodass ihr Nachwuchs schon mal ein paar Meter weit fliegt. Der kleine Bär könne eine solche "Baggpfeife", wie es Maußner in seinem breiten fränkischen Dialekt nennt, problemlos wegstecken. Ein Mensch würde einen solchen Schlag eines ausgewachsenen 250 bis 300 Kilogramm schweren Eisbären wohl kaum überleben. Doch danach wissen die Jungen, wo ihre Grenzen sind.
Flocke braucht Disziplin
Maußner und seine drei Kollegen müssen sich gelegentlich ebenfalls hart gegen den Bären durchsetzen. "Wenn Flocke nicht im jetzigen Alter eindeutig diszipliniert wird und sich den Regeln der Pfleger unterwirft, wird sie binnen weniger Wochen zu einem unberechenbaren Raubtier, dessen Anlage dann in ihrer Anwesenheit nicht mehr betreten werden darf", sagt der Direktor des Tiergartens, Dag Encke. Der Zoochef will den Kontakt zwischen Flocke und ihren Pflegern nicht von einem Tag auf den anderen komplett abbrechen. Stattdessen sollen sich die Pfleger langsam zurückziehen.
"Flocke soll sich, so weit sie dies selbständig tut, mit sich, ihrer Umgebung und den angebotenen Spielmöglichkeiten beschäftigen", hat Encke seine Mitarbeiter angewiesen. "Eine animierte Beschäftigung ist weitgehend zu unterlassen, es sei denn, dass Flocke ihre Zieheltern aktiv zum Spielen auffordert." Und selbst dann sollten die Pfleger den direkten körperlichen Kontakt vermeiden. Stattdessen sollen sie Spielsachen wie Plastikeimer und -kisten oder Bälle verwenden, die zuhauf in Flockes Gehege liegen. Der direkte Kontakt zwischen dem Bärenjungen und seinen Ersatzeltern ist damit auf die Kuscheleinheiten im Stall beschränkt, die das Tier laut Encke noch für sein Urvertrauen braucht. Ziel dieser Vorgaben ist, so lange wie möglich mit Flocke die Anlage betreten zu können. "Ein abrupter, für Flocke unangenehmer Abbruch der engen Beziehung zwischen Tier und Mensch müsste sonst folgen."
In der Natur bleiben Eisbären zwei Jahre bei der Mutter
Der wäre nicht im Interesse des Tieres. Zwei Jahre bleiben jungen Eisbären in der freien Wildbahn bei ihrer Mutter, bis sie alleine überlebensfähig sind. So lange können Raubtier und Pfleger nicht zusammen bleiben, ohne dass der Mensch ernsthaft gefährdet wäre. "Man muss einen gesunden Mittelweg finden", sagt der Biologe Heiner Klös, der im Berliner Zoo die Pflege und Haltung des inzwischen eineinhalb Jahre alten Eisbären Knut koordiniert. "Für den Bären wäre es nicht falsch, wenn der Mensch länger dabei bleiben würde." Doch aus Sorge um den Tierpfleger hat man sich auch in Berlin entschieden, Knut im Alter von gut einem halben Jahr immer öfter allein zu lassen. Rückblickend sieht Klös diese Entscheidung bestätigt: "Wir haben den Eindruck, als ob der Bär gut klar gekommen wäre."
Das hofft auch Maußner eines Tages über seinen Schützling sagen zu können. Manchmal muss er sich selbst bremsen, um nicht zu sehr an Flocke zu hängen. "Zu viel Liebe ist ein Fehler, denn sonst ist das Tier zu sehr auf den Menschen fixiert." Doch leicht ist das nicht, wenn man weiß, dass die immer noch süß anzusehende Flocke schreit, weil sie Maußner in ihrer Nähe haben will.