Europäische und amerikanische Wissenschaftler rekonstruieren mit Hilfe modernster Technik das älteste Buch Europas. Die in einem 2.400 Jahre alten Grab eines makedonischen Edelmanns gefundenen Fragmente geben nach Angaben des Direktors des Archäologischen Museums von Thessaloniki, Polyxeni Veleni, Hinweise auf die Entstehung monotheistischer Religionen. "Es ist das älteste existierende Buch, wenn man das Wort für eine Schriftrolle benutzen darf, in westlicher Tradition", erklärte er am Donnerstag. "Das war ein einmaliger Fund, von unschätzbarer Bedeutung."
1962 wurde das halbverbrannte Derveni-Papyrus im Norden Griechenlands entdeckt. Mehr als vier Jahrzehnte später können Wissenschaftler jetzt mit Hilfe moderner Bildbearbeitungs- und Scan-Techniken die Schrift auf den verkohlten Stücken entziffern. "Wir können nun sogar die am stärksten verkohlten Teile lesen, sogar die Stücke, die komplett schwarz sind, und wo man mit dem Auge gar nicht erkennen kann, ob darauf Text vorhanden war oder nicht", sagt Veleni. Im Mai haben Experten von der Brigham-Young-Universität im US-Staat Utah mit einer Multispektralanalyse verbesserte Bilder von dem Papyrus gemacht. Diese werden nun von Papyrologen der Universität Oxford analysiert. Die Ergebnisse sollen 2007 publiziert werden.
Alter des Schriftstückes noch unklar
Die Schriftrolle soll um 340 vor Christus, während der Herrschaft von Philipp II. von Makedonien, Vater von Alexander dem Großen, geschrieben worden sein. Der griechische Philosoph Apostolos Pierris glaubt, dass der Text ein Jahrhundert älter sei. "Er wurde möglicherweise von jemandem aus dem Kreis des griechischen Philosophen Anaxagoras in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts vor Christus geschrieben", sagte er am Donnerstag. Anaxagoras war vermutlich der Lehrer von Sokrates und wurde des Atheismus bezichtigt. Die lesbaren Teile der Schriftrolle enthalten philosophische Abhandlungen über ein Gedicht, welches die Geburt der Götter und anderer Glaubensrichtungen mit Blick auf Orpheus behandelt.
Orpheus war dem Mythos zu Folge ein Dichter, welcher in die Unterwelt herabstieg, um seine tote Geliebte zurückzufordern. Er hatte in der antiken Welt einen starken Kult. Dieser Orpheus-Kult brachte die Idee eines einzigen Schöpfergottes auf, was dem Glauben an die vielen Gottheiten im antiken Griechenland widersprach. Er soll die Entstehung und Entwicklung späterer monotheistischer Religionen beeinflusst haben. "Man kann sagen, er war ein Wegbereiter des Christentums", sagt Pierris. Und Veleni fügt hinzu: "Das Manuskript wird helfen, den Einfluss von Orpheus auf spätere monotheistische Religionen zu erfahren".