Kurz vor der argentinischen Präsidentenwahl ist der Kampf um von Arbeitern besetzte Fabriken gefährlich eskaliert. "Unsere Waffen sind Schere, Nadel und Schürze", schreit die Argentinierin Celia Martinéz ihre Wut und Verzweiflung in die Fernsehkameras. Gerade hat die Polizei mit Tränengas, Gummigeschossen und Schlagstöcken verhindert, dass sie und ihre überwiegend weiblichen Kolleginnen weiter in der Textilfabrik "Brukman" in Buenos Aires arbeiten können.
Angesichts einer Armutsrate von 60 Prozent und einer Arbeitslosenquote von geschätzten 25 Prozent liegen die Nerven auf allen Seiten blank. Bei einer Straßenschlacht vor dem Gebäude in der Nähe des Zentrums der Millionenstadt wurden diese Woche mehr als 60 Menschen verletzt und 130 Demonstranten vorübergehend festgenommen.
Vom Volk legitimierte Regierung angestrebt
Die Furcht vor Unruhen sitzt tief in Argentinien, nachdem Präsident Fernando de la Rua vor eineinhalb Jahren nach blutigen Unruhen mit 32 Toten zurücktreten musste. Die kommende Wahl soll dem Land, das die schwerste Wirtschaftskrise seiner Geschichte durchmacht, endlich wieder eine stabile und vom Volk legitimierte Regierung geben. Die Szenen von der Straßenschlacht um die Textilfabrik erinnerten gefährlich an das Ende der Regierung De la Rua und ließen die Alarmglocken schrillen. Sozialen Sprengstoff gibt es in Argentinien mehr als genug.
Besetzung der "Brukman"-Fabrik ist kein Einzelfall
"Brukman" ist nur ein Fall von vielen. Vor 16 Monaten meldete das Unternehmen Konkurs an, und die 115 Arbeiter saßen auf der Straße. Ein Teil der Belegschaft wollte sich nicht in sein Schicksal fügen. Stattdessen besetzten sie die Fabrik und nahmen die Produktion in Eigenregie wieder auf. Trotz der katastrophalen wirtschaftlichen Lage lief die Produktion bald so gut, dass sogar weitere der ehemaligen Mitarbeiter wieder eingestellt werden konnten.
Enteignung und Verstaatlichung gefordert
Um ihre wiedergewonnenen Arbeitsplätze auf Dauer zu sichern, fordern die Besetzer die Enteignung und Verstaatlichung der Fabrik. Die Eigentümer kämpfen jedoch um die Rückgabe des Unternehmens. "Sie haben Angst vor uns, weil wir inzwischen gelernt haben, wie eine Fabrik zu führen ist", sagt Celia unter dem Applaus hunderter Demonstranten, die vor dem von der Polizei abgeriegelten Gebäude ausharren. "Haut alle ab", lautete der Kampfruf hunderttausender Bürger, die De la Rua zu Fall brachte. Bei "Brukman" gilt dies auch für die Eigentümer.
Organisationen aus dem In- und Ausland unterstützen die "Brukman"-Frauen
Ohne die massive Unterstützung zahlreicher Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen hätte die überwiegend weibliche Belegschaft ihren Kampf wohl nicht bis heute durchhalten können. Soziale und politische Organisationen aus dem In- und Ausland bestärkten die Brukman-Frauen. Sie gehören jedoch mit ihrer Forderung nach Verstaatlichung zum radikaleren Flügel der landesweiten Bewegung der Fabrikbesetzer.
Kooperativ geführte Unternehmen stoßen auf wenig Widerstand
Angestellte anderer besetzter Unternehmen hingegen, wie etwa des Hotels "Bauen" im Zentrum von Buenos Aires, wollen ihren Betrieb als Kooperative eigenverantwortlich weiterführen. An die Stelle der ehemaligen Geschäftsführung sind hier die Betriebsversammlungen getreten, in denen alle Entscheidungen per Abstimmung getroffen werden. Solche Projekte treffen in der Regel auf weniger Widerstand der Justiz und der Polizei.
Über 100 Unternehmen in der Hand der Arbeiter
Die ersten Unternehmen wurden in Argentinien bereits Ende der 90er Jahre besetzt. Inzwischen sind landesweit über 100 Unternehmen - 70 davon in Betrieb - in der Hand der Arbeiter. Räumungen durch die Polizei haben in der letzten Zeit jedoch zugenommen. Das liegt auch am wirtschaftlichen Erfolg der Projekte. Wo angesichts der beginnenden wirtschaftlichen Erholung des Landes wieder Geld verdient wird, wollen die Eigentümer ihre Fabriken zurück.