60 Jahre Israel "Ein Regenschirm fürs ganze Land"

Nirgendwo in der westlichen Welt werden so viele Kinder geboren wie in Israel. Es ist auch eine Lebensversicherung für das Land. Doch zunehmende Armut und Gewalt treiben den Nachwuchs auf die Straße. Die letzte Hoffnung: das Beit Hashanti am Strand von Tel Aviv.

"Ich hätte mir eine Kugel durch den Kopf gejagt". Ein kühler Satz, wie aus dem Mund eines Soldaten, der den Freitod dem Feind vorzieht. Meitals Feind war das Leben. Damals, vor fast zehn Jahren. Mit 18 Jahren fand sie sich plötzlich auf der Straße wieder. Stromerte ziellos durch Tel Aviv, hungrig, ungewaschen, auf der Flucht vor sich selbst und dem Leben. Drei Monate lang ging das so, Meital war am Ende. Bis sie ins Beit Hashanti einkehrte.

Es war Anfang der 80er Jahre, als einigen in Israel klar wurde, dass das Land ein echtes Problem mit Jugendlichen wie Meital hat. Bis Miriam Klein, selbst ein ehemaliges Straßenkind, kam und sich der Sache annahm. Seit 1984 gibt es nun diese Zufluchtsstätte für Straßenkinder und strauchelnde Jugendliche. Weil sich ein Mädchen hier so "shanti" fühlte, so "behaglich und beruhigt", hieß das Haus fortan Beit Hashanti, das "warme Heim", erzählt Hadas, 38, hier liebevoll nur Mutter genannt.

Schlagende Eltern, Kinder auf Drogen

Warum sie ganz unten gelandet ist? Meital fläzt sich auf einem riesigen schwarzen Sofa mit goldenen Kissen und wirft ihre linke Hand über die Schulter: "Ach, das übliche eben". Das übliche heißt hier: Die Eltern sind Säufer oder schlagen ihren Nachwuchs oder missbrauchen ihn oder sind mit allem überfordert oder alles zusammen. Das übliche heißt aber auch: Die Kinder sind Waisen, selbst auf Drogen, schlagen selber zu, sind selber überfordert oder alles zusammen - das ganze Dickicht eben, in dem sich Heranwachsende verfangen können.

Die offenen Türen des warmen Heims, einem sechsstöckigen Haus am Metsitsim-Strand von Tel Aviv, haben nicht nur Meital vor der tödlichen Kugel bewahrt. Es sind viele, die die gleiche oder eine ähnliche Geschichte erzählen könnten. Für jährlich 1000 Teenager ist das Beit Hashanti die letzte Rettung, für 70.000 war es in den vergangenen 25 Jahren wenn nicht das einzige, aber das entscheidende Zuhause. Der Bedarf an Geborgenheit scheint groß zu sein, zurzeit baut die die mehrfach ausgezeichnete Organisation ein weiteres Haus in der Negev-Wüste, eine Shanti-Oase sozusagen. Jerusalem und der Norden sollen folgen.

Sicherheit frisst Sozialleistungen auf

Schätzungsweise 330.000 Kinder leben in Israel unter "riskanten Bedingungen", wie die "üblichen" Probleme offiziell heißen, 450.000 unterhalb der Armutsgrenze. Die Geschichte Meitals ist deshalb auch die Geschichte von einem Land, in dem die Ausgaben für Sicherheit die Sozialleistungen auffressen, von einem Land, das jegliche Fürsorge in private Hände überantwortet, sich aber gleichzeitig mit seiner Familienfreundlichkeit brüstet.

In keinem anderen westlichen Staat werden derzeit so viele Kinder geboren wie in Israel: 2,7 kommen statistisch gesehen auf jede jüdische Frau. Worunter natürlich auch die Orthodoxen fallen, die aus religiösen Gründen schon mal zehn oder mehr haben. Das Fernsehen überbietet sich mit Sendungen, in denen "koschere Küche für die Kleinen" präsentiert wird, Eltern Tipps und Tricks bei Blähungen austauschen und Ratgeber-Shows im steifen Sachkunde-Sound das Publikum mit Sätzen beglückt, wie "Im Alter von neun Monaten interessiert sich der Nachwuchs für Plüsch-Marienkäfer und kommuniziert die Freude darüber mit Stoßlauten."

Kinderreichtum ist in Israel aber auch Politik, weswegen es sich eine Art Wettzeugen mit den arabischen Nachbarn zu liefern scheint. Schon bei seiner Gründung vor 60 Jahren hoffte Staatsgründer Ben Gurion darauf, dass die Juden fleißig ins Land einwandern, zumindest sich aber fleißig vermehren würden. Denn nichts könnte Existenz und Ansehen Israels mehr untergraben, als plötzlich als Land ohne (jüdische) Einwohner dazustehen, überflügelt von den traditionell kinderreichen Nachbarn aus den palästinensischen Gebieten.

Mehr als 30 Euro Kindergeld gibt es nicht

Und obwohl Israel seit einiger Zeit wieder mehr Menschen verlassen als für immer betreten, hält sich der Staat bei der Unterstützung der Eltern vornehm zurück. Kindergarten- und andere Betreuungsplätze sind deutlich teurer als in Deutschland und waren bis vor kurzem nicht einmal von der Steuer absetzbar. 150 Schekel Kindergeld pro Monat bekommen Eltern für das erste Kind. Umgerechnet 30 Euro. "Ein Witz", sagt Hadas sichtlich sauer, selbst Mutter eines 11-Jährigen, "das reicht, wenn überhaupt, gerade einmal für die Milch."

Doch Kinder bedeuten auch Zukunftsplanung, eine Lebensidee, eine Perspektive für die nächsten zehn, vielleicht zwanzig Jahre. Ungewöhnlich in einem Land, das wegen seiner permanenten Existenzängste lieber im Heute als im Morgen lebt. Und schwierig, weil immer mehr Menschen verarmen. Experten gehen davon aus, dass bald zehn Prozent aller Israelis unterhalb des Existenzminimums leben müssen. Vielleicht auch einer der Gründe, warum so viele Jugendliche entweder von zu Hause abhauen oder von den Eltern rausgeworfen werden. Und letztlich bei Hadas und Meital am Metsitsim-Strand landen.

Für die meisten, die es hierhin verschlägt, ist das Beit Hashanti der Punkt, von dem aus wieder ein Licht am Ende des Tunnels zu erkennen ist. Die Hilfsorganisation spricht davon, dass 97 Prozent aller Gäste niemals zurückgekehrt seien. Zumindest nicht als Bewohner. "Dreiviertel der Jugendlichen haben es geschafft, erfolgreich ihr Leben zu meistern", sagt Meital. Sie hätten einen Job gefunden, ein Haus gebaut, Familie gegründet, einige haben auch studiert und würden ein ganz normales Leben führen.

Nur dem Militär ist sie ausgewichen

Meital selbst gehört auch dazu. Ein Jahr lang hat sie im "warmen Heim" gewohnt. Sie ist wieder zur Schule gegangen, hat ihren Abschluss gemacht, danach kurz beim Fernsehen gearbeitet. Und nebenbei immer im Beit Hashanti ausgeholfen. Bis heute. Mittlerweile studiert sie Werbetexterei. Nur dem eigentlich obligatorischen Militär ist sie ausgewichen. Ganz anders als die meisten hier. Die Armee stellt sogar extra mehrere Soldaten für das Heim ab. Mehr als Ansprechpartner, weniger zum Rekrutieren. "Die Disziplin beim Militär ist für einige gar nicht mal schlecht", sagt Meital, aber dazu müssten sie sich erstmal sicher und behütet fühlen. Und das wollen sie hier, am Strand von Tel Aviv: "Einen Regenschirm über das ganze Land spannen."