Beim Referendum am kommenden Sonntag wird den Franzosen eine schlichte Frage gestellt: Sollen wir die erste Verfassung der Europäischen Union ratifizieren? Die Antwort - ein einfaches "Ja" oder "Nein" - dürfte die Zukunft Europas in den nächsten Jahren bestimmen und selbst Auswirkungen bis nach Washington und Peking haben.
Immerhin markiert die Verfassung den nächsten großen Schritt Europas in einem vor fünf Jahrzehnten begonnenen Prozess der wirtschaftlichen und politischen Union nach Jahrhunderten voller Kriege. Die Franzosen, einst Vorreiter der europäischen Einigung, sind aber in der Verfassungsfrage gespalten. Die Meinungsforscher sagen knapp eine Woche vor der Abstimmung ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Gegnern und Befürwortern voraus.
Und das, obwohl der Verfassungsvertrag Frankreich vielleicht mehr Einfluss einräumt als jemals zuvor in der Europäischen Union und der zweite der 448 Verfassungsartikel Freiheit, Demokratie und Gleichheit zu den Kernwerten der EU erklärt - also jene Prinzipien, die Frankreich seit der Revolution von 1789 hochhält. Außerdem wäre die EU mit einem Außenminister und einem Präsidenten international künftig besser repräsentiert.
Spaltung bis in die Familien
Dennoch spaltet die zum Teil erbittert geführte Debatte über die Verfassung in Frankreich politische Verbündete, Gemeinden und selbst Familien. Und weil die Verfassung erst in Kraft treten kann, wenn sie von allen 25 EU-Mitgliedstaaten ratifiziert worden ist, erwarten alle anderen EU-Partner mit Spannung die Entscheidung der Franzosen. Ein Grund, weshalb das Land hinsichtlich der EU-Verfassung so gespalten ist, ist die alte Manie der Franzosen, ihren Platz auf der Weltbühne zu verteidigen. Dieses Argument wird von den Gegnern und Befürwortern gleichermaßen ins Feld geführt.
Einige Verfassungsgegner argumentieren, Frankreich werde durch eine stärkere EU an Souveränität verlieren. Andere befürchten, dass Arbeitnehmerrechte abgebaut und Arbeitsplätze verloren gehen werden. Befürworter wie Staatspräsident Jacques Chirac hingegen warnen davor, dass das einst glorreiche Frankreich auf eine Nebenrolle reduziert würde, sollte es nicht mehr an der Spitze eines starken und geeinten Europas stehen. Entweder halten die Europäer zusammen oder sie gehen einzeln unter in einer Welt, die von den Vereinigten Staaten und den aufstrebenden Mächten China und Indien dominiert wird, so das Argument der Verfassungsbefürworter.
Immerhin erstreckt sich die Europäische Union mittlerweile vom Atlantik bis zur russischen Grenze. In dem Wirtschaftsraum leben 450 Millionen Menschen, die mit 20 Prozent am weltweiten Export beteiligt sind. Wenn Frankreich an der Spitze der EU bleibe, könne es auch weiter sein Gewicht in die Waagschale werfen, erklären die Anhänger der europäischen Verfassung.
Ungewöhnliche Allianz zwischen Kommunisten und Le Pen
Und welche Auswirkungen hätte ein "Nein" der Franzosen auf die Europäische Union im Allgemeinen? Die Verfassungsbefürworter mahnen, dass dann das Feld frei wäre für die amerikanische Hegemonie und einen ungezügelten Kapitalismus. Frankreich würde isoliert und der gesamte Prozess der europäischen Integration käme ins Stocken. Die USA hätten mit Sicherheit ein Interesse daran, den Aufbau Europas zu stoppen, der zu einem deutlich stärkeren Europa führen werde, sagte Präsident Chirac kürzlich in einer Fernsehdiskussion.
Die Argumente der Verfassungsgegner sind vielfältig, vor allem deshalb, weil diese aus einem breiten politischen Spektrum kommen - von ganz links bis ganz rechts. So sind sich etwa in der Ablehnung der EU-Verfassung die Führer der Kommunisten und Jean-Marie Le Pen von der rechtsextremen Nationalen Front einig.
Ziel der EU-Verfassung sei die Schaffung eines europäischen Superstaates, in dem Frankreich auf der Verliererseite stehen würde, sagt Le Pen. Frankreich könne nicht auf Europa zählen und müsse wieder unabhängig werden. Le Pens Argumente finden bei jenen Resonanz, die der Ansicht sind, Frankreich habe schon zu viel Macht an die EU-Bürokratie abgegeben und die sich vor Einwanderern aus den zumeist ärmeren EU-Neumitgliedsländern fürchten. Auch eine mögliche Aufnahme der muslimisch geprägten Türkei ist bei vielen ein Argument gegen die EU-Verfassung. Mit einem "Nein" werde Europe eher gerettet als untergehen, erklären die Verfassungsgegner.
John Leicester/AP