Passanten ziehen einem Mann Filmstreifen aus den Haaren. Bauarbeiter stehen unter Backsteinen, die an Fäden aufgehängt sind. Ärzte mit Suchlichtern auf dem Kopf massieren. Das ist keine bizarre europäische Realität, sondern Kunst beim Internationalen Kunstfestival Dashanzi, dem wichtigsten Kunstereignis in Peking. Europa ist weit weg, Europa ist anders, aber auch hier wird über dieses Europa diskutiert und über das Gestern, das Heute und Morgen der europäisch-chinesischen Verbindung. Selbst der Ort des Geschehens steht für dieses Thema: "798", eine von DDR-Architekten gebaute Geheimfabrik im Bauhausstil, die einst Teile für Chinas Atombombe lieferte, ist heute Pekings heißestes Avantgarde-Gelände, in dem chinesische Künstler arbeiten und sich mit den europäischen Kollegen auseinandersetzen.
"Europäern ist Freizeit heilig
Was für einen Eindruck macht Europa auf die jungen Chinesen? "Europa rückt zusammen, grenzt sich aber gleichzeitig immer stärker vom Rest der Welt ab", klagt Li Mo, die Filmemacherin, in Peking. Wen Ling, 30, stellt Fotos aus. Er sieht Europa anders, positiver, als die Filmemacherin - die arbeiten einfach weniger. Toll. "Meinen europäischen Freunden ist die Freizeit heilig", schwärmt Ling. "Davon sollten wir Chinesen uns eine Scheibe abschneiden. Bei uns wird die Freizeit für die Arbeit geopfert." Um sich mit Europäern auszutauschen, hat Wen Ling, der sich als "Chinas erster Amateur-Foto-Blogger" sieht, einen Blog mit seinen Bildern eingerichtet. (http://www.ziboy.com). Darin sind Musikfans bei Festivals ebenso zu sehen wie volle Esstische und antijapanische Demonstrationen. Er ordnet die Fotos nach dem Zeitpunkt der Aufnahme, bewusst verzichtet er auf Bildtexte: "Nicht nötig", sagt er."Fotoblogs sind international, selbst ein Signal von Globalisierung. So können normale Leute weltweit miteinander in Kontakt treten."
Zur Person
Unsere Autorin Ellen Deng, 29, ist in Maos Heimatprovinz Hunan geboren. Sie arbeitete im lokalen Fernsehen als Redakteurin für den Businesskanal. Um ihre Sicht zu erweitern und ein bunteres Leben zu führen, zog sie 2001 nach Peking um. Dort wurde sie Reporterin für eine Reisezeitschrift. Seit kurzem arbeitet sie im Pekinger stern-Büro und will damit deutschen Lesern helfen, etwas über die erstaunlichen Veränderungen in China zu erfahren. Die rasante Entwicklungs Chinas ist auch Thema ihres Blogs "Dragon Girl" auf stern.de.
"Chinesen und Europäer werden einander ähnlicher werden"
Wen Ling denkt an die Zukunft: "Ich bin sicher, in 20 Jahren werden Chinesen und Europäer einander ähnlicher werden", sagt er. Vielleicht habe es Chinesen bis dahin gelernt, sich besser zu entspannen. Und Europäer müssen mehr arbeiten, weil die Konkurrenz aus Fernost sie dazu zwingt. Wen Ling allerdings denkt weniger in wirtschaftlichen als vielmehr in künstlerischen Kategorien. Er träumt davon, in Deutschland "freie Kunst" zu studieren. Deutsch kann er schon ein wenig. Das hat er am Pekinger Goethe-Institut gelernt. Noch hat sich sein Traum nicht ganz erfüllt, nur ein bisschen: Voraussichtlich im nächsten Jahr wird er in München ausstellen.
"China verändert sich rasanter als Europa"
Immer noch auf dem Festival, einige Gebäude weiter. Die Besucher hören laute Musik, eine Mischung aus Jazz und Punk. Eine sanfte Frauenstimme schreit: "So viele Freunde hier! Das ist großartig! Eine gute Gelegenheit, meinen neuen Song 'Kontrolle' auszuprobieren. Denn ich bin ein Mädchen, das gern Kontrolle verliert." Es ist die 27-jährige Helen, Frontsängerin der Band "Ziyo". Der Name kann auf Chinesisch sowohl "Freiheit" als "spielen" bedeuten. Keiner kann sich Helens Charme entziehen, sie verführt das Publikum. "Sie ist wie eine Hexe mit Zauberkräften", sagt ein Zuhörer. Ein anderer entgegnet: "Nein, sie ist eine Schlange." Der nächste: "Was immer sie ist, ich möchte sie heiraten"
Helen ist in den USA aufgewachsen, sagt aber: "Wie China ist Europa ein Kontinent, der auf einer alten Kultur beruht. Deshalb sind wir tiefgründiger als die Amerikaner. Europa hat mich stark beeinflusst, der deutsche Expressionismus, französische Filme und vor allem britische Musik wie Franz Ferdinand, U 2, Black Box Recorder, Massive Attack... Und die Zukunft Europas? "Das einzige, was ich sicher sagen kann: China verändert sich rasant schnell, viel schneller als Europa."
"Warum müssen die Europäer immer alles festlegen?
Bleibt die Europaskeptikerin Li Mo, die an Pekings Zentraler Akademie für Drama Filmproduktion studiert. Auf dem Internationalen Kunstfestival Dashanzi schneidet die 20-jährige einen einminütigen Film, "Die Nebendarstellerin". Damit nimmt sie Teil an einem Wettbewerb hier, jeder Beitrag soll einen Aspekt des Lebens in Peking zeigen und genau eine Minute lang sein. Li Mo filmte eine Nebendarstellerin in der Peking-Oper. Wie diese einsam und müde hinter der Bühne wartet, findet die Filmemacherin interessanter als die Hauptdarsteller auf der Bühne. In dem Beitrag sieht man, wie ein Mann den Backstage-Bereich betritt und eine Zigarette anzündet - unter einem Schild "Rauchen verboten". "Hier sieht man den Unterschied zwischen uns und den Europäern“, sagt Li Mo. "In Europa folgt alles Regeln. Ich habe italienische und französische Freunde. Die kritisieren mich immer, wenn ich beim Essen ein bisschen schmatze. Dabei möchte ich einfach nur ich selbst sein. Warum müssen die Europäer alles so genau festlegen?"