Der Platz für Meinungsfreiheit in Hongkong ist an diesem Tag nicht großzügig bemessen: zwei mal zehn Meter vielleicht. Höchstens. Eingegrenzt von Absperrgittern und einem Straßenzaun, bewacht von mehreren Dutzend Polizisten. Auf dem schmalen Streifen Ecke Nathan Road und Salisbury Road in Tsim Sha Tsui warten rund zwanzig Demonstranten auf das olympische Feuer. Sie halten Transparente, Plastikfackeln und selbst gemalte Plakate in die Luft. "Demokratie in China - wir sind bereit", brüllt ein Mann in ein Megaphon. Die anderen wiederholen den Slogan so laut sie können. "Menschenrechte - go go go."
Sie wollen jubeln, nicht diskutieren
Umgeben sind sie von mehreren zehntausend Schaulustigen, die gespannt auf den Beginn des Fackellaufs warten. Viele schwenken rote Fahnen, tragen rote T-Shirts, haben sich die chinesische Flagge ins Gesicht gemalt. Niemand weiß, wie viele Hongkonger und wie viele Festlandschinesen darunter sind. Seit der Rückgabe der ehemaligen britischen Kronkolonie an China sind mehrere hunderttausend Chinesen vom Festland in die Stadt gezogen, zudem kommen jeden Tag über 35.000 Touristen aus der Volksrepublik. Viele von ihnen säumen jetzt die Straßen. Sie wollen feiern. Sie wollen jubeln und nicht über Menschenrechte und Demokratie diskutieren.
Es ist ein großer Tag für Hongkong. Nach wochenlanger Reise kreuz und quer durch die Welt ist das olympische Feuer endlich in China angekommen. Die zwanzigste Etappe führt durch Hongkong und schon seit Tagen ist der Fackellauf das beherrschende Thema in der Millionenmetropole. Manche Politiker haben Firmen und Schulen aufgefordert, ihren Mitarbeitern und Schülern frei zu geben, damit sie die Straßen säumen können. Eine Bekleidungskette hat 15.000 rote T-Shirts verschenkt, wer China unterstützen will trägt heute rot. Über dreitausend Polizisten sind im Einsatz, sie sollen sicherstellen, dass nach den Protesten in London, Paris, San Franzisco und einigen anderen Städten in Hongkong nichts schiefgeht. Da in der Stadt aber Demonstrations - und Meinungsfreiheit herrscht, nicht nur auf dem Papier, haben die Behörden diese Straßenecke für Proteste reserviert.
"Wir lieben China"
Direkt neben den Demonstranten steht eine Gruppe von Studenten aus der Volksrepublik. Sie schwenken große rote Fahnen, unter ihnen ist die Toleranz für die Rufe nach Freiheit und Demokratie noch kleiner als der Platz an der Ecke. "Wir lieben China," skandieren sie. "Wir lieben China." "Ich auch," sagt Helena Kwong. "Aber das kann doch nicht heißen, dass ich keine Kritik üben darf. Im Gegenteil." Die Dreißigjährige verharrt auf den zwanzig Quadratmetern Meinungsfreiheit und hält trotzig ein Plakat hoch: "Eine Welt - ein Traum: Menschenrechte". Die Studenten buhen, pfeifen und rufen: "Wir lieben China."
Es ist kurz nach zehn, es hat zu regnen begonnen, die Gesänge werden lauter, aggressiver. Der Fackelträger läuft vorbei, winkt ins Publikum - und ist zur Enttäuschung der Zuschauer nach wenigen Sekunden schon wieder verschwunden.
Die Demonstranten sammeln sich und wollen die Nathan Road hoch zum Kowloon Park gehen. Bereits nach wenigen Metern können sie sich kaum einen Weg durch das Meer an roten Fahnen bahnen. Von überall strömen rote T-Shirts herbei. "Verräter," beschimpfen sie die Demonstranten. "Ihr reuigen Hunde. Verpisst euch." Ein Mann schlägt mit einer Fahnenstange auf einen Demonstranten ein, die Polizei geht dazwischen. Sie bildet jetzt einen Kordon zum Schutz der Meinungsfreiheit. Ein älterer Mann droht einem Ausländer, der bei den Demonstranten mit marschiert mit der Faust: "Was willst du hier?" brüllt er. "Raus mit dir, du hast hier nichts zu suchen Bastard."
Auch ein paar Straßen entfernt kommt es zu Handgreiflichkeiten zwischen Pro-Tibet-Demonstranten und Zuschauern. Die Polizei nimmt die Aktivisten mit auf die Wache, "zu ihrer eigenen Sicherheit".
Nach gut einer Stunde ist wieder alles normal in Tsim Sha Tsui. Durch die Einkaufszentren schieben sich die Menschen, vor dem Louis Vuitton Laden wartet eine lange Schlange, die Restaurants sind überfüllt. An manchen Ecken stehen noch kleine Gruppen und diskutieren. Was der Westen gegen China hat, möchte eine junge Studentin aus der Provinz Hubei von einem Ausländer wissen. "Wir fangen keinen Krieg an. Wir bedrohen niemanden."
Sie erzählt von den falschen Berichten in den westlichen Medien über China. Von den Angriffen gegen die Fackelläufer in London und Paris. Warum haben die Regierungen das zugelassen? Als sie erfährt, dass die Regierungen im Westen weder die Medien kontrollieren noch den exakten Verlauf von Demonstrationen, wird sie nachdenklich. "Vielleicht," sagt sie nachdenklich, "wissen wir voneinander einfach viel zu wenig."
Mit zunehmender Dauer wird der Fackellauf mehr und mehr zu einem Volksfest, oder genauer: Zu einer Mischung aus Nationalfeiertag, Betriebsausflug, Sportwettkampf und Rummel. Das olympische Feuer durchquert Hongkong nicht nur im Laufschritt, es ist im Auto unterwegs auf einem Drachenboot, und selbst zu Pferde. Neben Straßen sind oft auch Fußgängerbrücken abgesperrt. Ein Alptraum, wenn plötzlich von einer Brücke eine tibetanische Fahne hängen würde. Nancy Wu muss sich mächtig strecken, um auch nur einen Blick auf die Straßen zu erhaschen. Sie ist sehr klein, steht auf Zehenspitzen in der fünften Reihe und hält ihre Kamera in die Luft. Die 23-Jährige stammt aus der chinesischen Provinz Sichuan und studiert seit drei Jahren in Hongkong Betriebswirtschaft. Sie ist mit ihren Kommilitonen, alle aus der Volksrepublik, gekommen, um zu feiern. "Ich freu' mich auf die Olympischen Spiele," sagt sie. "Wir wollen der Welt ein guter Gastgeber sein und zeigen, was wir alles geschafft haben." Von den Protesten am Morgen hat sie in den Nachrichten gehört. Sie findet das gut. "Jeder hat seine eigene Meinung und soll sie ausdrücken können."
Auch in der Volksrepublik?
Sie nimmt sich Zeit mit der Antwort, die Blicke der anderen ruhen auf ihr. Sie überlegt, schaut sehr ernst. "Auch dort," sagt sie schließlich. "Es gibt nichts in der chinesischen Kultur, das gegen freie Meinungsäußerung spricht. Aber wir sind noch nicht so weit." Nach einer Pause fügt sie mit einem schüchternen Lächeln hinzu: "Noch nicht."