Presseschau zum Flüchtlingsstreit "Endstation Asozial" in Ungarn

Ungarns Premier Viktor Orbán gibt Deutschland die Schuld am Flüchtlingsandrang, Berlin wehrt sich. Die Debatte zeigt die unterschiedliche Wahrnehmung der Krise in Europa. Diese belegt auch die internationale Presseschau.

Ungarn will den neuen Zaun an der serbischen Grenze vom 15. September an verstärkt mit Militär und Polizei kontrollieren. In den vergangenen 24 Stunden sind mehr als 3000 neue Flüchtlinge in dem Land angekommen. Das teilte die Polizei in Budapest am Freitag mit. Elf Schlepper seien im selben Zeitraum festgenommen worden. Ungarns Premierminister Viktor Orbán gibt Deutschland die Schuld am Zustrom von Flüchtlingen. Die Debatte zeigt, wie unterschiedlich die Flüchtlingskrise in Europa wahrgenommen wird.

Lesen Sie selbst Kommentare aus Europa in unserer internationalen Presseschau.

"Süddeutsche Zeitung"

"Diese Eskalation hat eine schnelle Einigung auf eine europäische Asylpolitik nicht erleichtert. Ehrlicherweise muss man aber auch sagen: Eine gemeinsame europäische Antwort auf die Flüchtlingswelle wäre auch ohne Merkels Rede und das Wirrwarr um das Asylverfahren nicht gefunden worden. Europa ist tief gespalten im Umgang mit den Flüchtlingen. Diesen Befund muss man zunächst einmal wertungsfrei stellen, ehe man die Moralkeule etwa gegen Großbritannien zückt, oder wie Orbán die Großzügigkeit der Deutschen in zynischer Absicht auf die Probe stellt. Ein nüchterner Rundumblick in Europa zeigt: Deutschland steht einsam und verlassen da mit seiner Flüchtlingspolitik; es gibt nicht ein Land, das annähernd die gleiche Hilfsbereitschaft mobilisiert."

"Tagesspiegel"

"Natürlich haben Quotenregelungen nur begrenzte Wirkung. Menschen sind keine Waren, die man hin- und herschieben kann. Viele Flüchtlingen wollen dorthin, wo schon Landsleute, wo Verwandte oder Freunde leben. Das war schon immer so. Das kann die EU bei ihren Überlegungen nicht einfach negieren. Als am 23. Oktober 1956 der ungarische Volksaufstand begann, flüchteten 200.000 Ungarn vor den sowjetischen Panzern nach Österreich. Viele blieben dort, jeweils 14.000 wurden von der Schweiz und Deutschland aufgenommen. Dass dies ein ungarisches Problem sei, das hat damals in Europa niemand gesagt." 

"Thüringische Landeszeitung"

"Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán macht Deutschland für das Leid der Flüchtlinge verantwortlich. Seine Argumentation ist, mit Verlaub, asozial. Deutschland habe die Syrer 'an den gedeckten Tisch geladen' und folglich sei das Schicksal der Flüchtlinge ein deutsches und kein europäisches Problem. Folgt man dieser vermeintlichen Kausalität wird der Zynismus seiner Aussagen entlarvt. Denn die Flüchtlinge wollen nach Deutschland und nicht nach Ungarn, weil sie dort menschenunwürdig behandelt werden.

Eine Plakataktion gegen Flüchtlinge und eine Volksbefragung zur Einwanderung sprechen eine deutliche Sprache: 'Refuges not welcome' - Flüchtlinge nicht willkommen. Ob Ungarn nicht lieber kinderreiche einheimische Familien unterstützen solle anstatt Einwanderer, steht auf den Plakaten. Die NPD lässt grüßen. Orbán hat sich seit Beginn seiner Regierungszeit  auf eine nationale Reise in die Isolation begeben. Sein Volk hat er dabei in Geiselhaft genommen. Nun ist er angekommen: 'Endstation Asozial' dröhnt es aus den Lautsprechern am 'Bahnhof Missachtung'."

"Freie Presse"

Die ausländerfeindliche Hetze der rechtsradikalen Jobbik-Partei in Ungarn sowie die unverblümten Worte von Premier Orbán sind abscheulich und befremdlich zugleich. Umso mehr, wenn man sich die Bilder vom Budapester Bahnhof genauer anschaut: Die Flüchtlinge drängen dort in einen Zug, dessen Lokomotive eine spezielle Bemalung hat. Sie erinnert an das "Paneuropäische Picknick" vom Sommer 1989 an der ungarisch-österreichischen Grenze. Damals nutzten Hunderte DDR-Bürger ein kurzzeitig geöffnetes Grenztor zur Flucht. 25 Jahre später steht das gleiche Land, das damals der Freiheit in Europa den Weg bereitete, für die unwürdige Schikane von Flüchtlingen. Eine traurige Wandlung."

"Volksstimme"

"Wenn Ungarns Regierungschef Viktor Orbán das Flüchtlingsproblem einseitig nach Deutschland schiebt, zeigt er einmal mehr, was er von Europa hält: gar nichts. Noch aber ist Dublin II, wonach Flüchtlinge in dem Land aufgenommen werden, in dem sie um Asyl bitten, in Kraft. In empörender Ignoranz des EU-Rechts bildet Ungarn die Speerspitze all jener Staaten, die die kollektive Lösung einer zwingend gemeinsamen Aufgabe ablehnen oder behindern. Zu dieser Gruppe zählen Polen, Tschechien und Slowakei - mit Ungarn in der Visegrad-Gruppe verbunden - die baltischen Länder und Großbritannien. Es ist eine innere Herausforderung der EU, die sich die Gemeinschaft so nicht bieten lassen kann. Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte jüngst nicht näher auf die politischen Zwangsinstrumente eingehen, mit denen eine europäische Flüchtlingspolitik zu erwirken wäre. Doch wird sie gemeinsam mit den engsten Partnern in Europa nicht umhinkommen, sie anzupacken." 

"Magyar Nemzet" (Ungarn)

"Warum ist es nicht möglich, jene [Flüchtlinge] menschlich, zivilisiert und europäisch höflich zu behandeln, die nicht nur unsere Arbeitsplätze nicht wegnehmen, sondern noch nicht einmal einen Tag in Ungarn bleiben wollen? Angesichts der Lage am [Budapester] Ostbahnhof kommt die Frage auf, ob der Staat überhaupt funktionsfähig ist. Wenn es schon so schwer ist, mit etwa 2000 Menschen angemessen umzugehen, sie zu informieren und zu bremsen - wie sollte dann erst die Sperre der (ungarischen) Südgrenze gut funktionieren?"

"Nepszabadsag" (Ungarn)

"Zu Weinlesezeiten ist der Mostdampf gefährlich - teilte die Generaldirektion des [ungarischen] Katastrophenschutzes mit. Das dieses Thema die Aufmerksamkeit der Institution erregte, zeugt von unübertrefflichem Sinn für das Wesentliche. Nicht davon zu reden, dass es nun bestätigt ist: Der Staat hat kein wichtigeres Ziel, als im Alltag wie ein Krimiheld daherzukommen. Dieses besondere Engagement wurde dadurch verstärkt, dass die Verantwortlichen gestern auf die Idee kamen zu versuchen, die Flüchtlinge hereinzulegen.

Sie boten ihnen einen Zug gen Westen an, den sie schnell stoppten, um die Flüchtlinge in ein Lager zu treiben. Damit haben sie erreicht, dass Syrer und Afghanen jetzt dasselbe glauben wie die Mehrheit der Ungarn: Man darf diesem Staat nicht vertrauen. [...] Was wir in diesen Tagen in Budapest gesehen haben, bedeutet: Der ungarische Staat funktioniert nicht. Darin gleicht er gespenstisch den Spitzenpolitikern der Europäischen Union. Aber jeder vernünftige Mensch hat nun genug davon, dass die Ankunft von täglich 2000 Menschen im Herzen des Kontinents eine humanitäre Katastrophe auslöst."

"El Mundo" (Spanien)

"Deutschland gibt mit der Solidarität, die es den Flüchtlingen entgegenbringt, ein Vorbild ab, dem die anderen Staaten in Europa folgen sollten. Die EU scheint vergessen zu haben, dass sie mit der Idee entstanden war, die Grenzen auf dem Kontinent zu überwinden. Im Gegensatz zur inakzeptablen Haltung des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán reagierte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf den größten Flüchtlingsstrom seit dem Zweiten Weltkrieg in tadelloser Weise. Wenn die Flüchtlinge in Ungarn sagen, sie wollten nach Deutschland und nicht nach Europa, hat dies viel zu bedeuten. Es zeigt, dass die EU gescheitert ist."

"La Stampa" (Italien)

"Die politische Klasse Europas steht vor einer schwierigen Aufgabe. Sie muss die Bürger überzeugen, dass die Migrationswelle noch nicht vorüber ist. Und vor allem, dass es sich nicht um ein natürliches Phänomen handelt, weshalb man nicht guten Gewissens die Erfahrung unserer Vorfahren bei Migration heranziehen kann. Es ist eine andere Kategorie. Es handelt sich nicht um Migranten im eigentlichen Sinne, sondern um Menschen auf der Flucht, um Flüchtlinge. Deshalb brauchen wir moralische und politische Verantwortung, für die wir uns an allgemeine Prinzipien wie das Asylrecht erinnern müssen. Jetzt, wo es eine konkrete Realität wird, die als Invasion wahrgenommen wird, sind wir in Schwierigkeiten. Wir versuchen verzweifelt, uns an anderen Klassifizierungen festzuhalten, um das Problem zu lösen."

"Tagesanzeiger" (Schweiz)

"Ungarn hat die Pflicht, die Außengrenze der Europäischen Union zu schützen, und Ungarn hat das Recht, auf die Einhaltung des Dublin-Abkommens zu pochen. Ungarn kann auch von Brüssel mehr Geld fordern. Aber all das darf eine Regierung, die Sicherheitskräfte und das Bahnpersonal nicht daran hindern, Kriegsflüchtlinge mit einem Minimum an Würde zu behandeln, sie mit ausreichend Wasser und Essen zu versorgen, Toiletten aufzustellen und eine medizinische Grundversorgung bereitzustellen.

Das ist keine Frage des Geldes, das kann keine Frage der Organisation sein. Wer elementare Hilfe verweigert und stattdessen Flüchtlinge politisch missbraucht, wer ihnen verspricht, sie könnten ausreisen, und sie in einen Zug lockt, nur um sie dann in ein Übergangslager zu bringen, wer den Zug mit Kindern stundenlang in brütender Hitze stehen lässt, wer jede Information verweigert und stattdessen bei den eigenen Wählern gegen Menschen in Not auch noch hetzt und sie als Bedrohung der eigenen Kultur diffamiert, der handelt nicht wie ein Christ und nicht wie ein Mensch. Der handelt wie ein Zyniker."

"Ouest France" (Frankreich)

"Frankreich hat die Wahl zwischen zwei Positionen. Die erste ist die Heuchelei, die darin besteht, weiterhin möglichst wenig zu tun und dabei lauthals die Achtung der Werte zu beteuern. Unsere Verantwortlichen verurteilen osteuropäische Länder, die sogar noch weniger machen als wir. Sie geißeln Ungarn, das einen Stacheldraht gezogen hat, [...] wie wir das in Calais gemacht haben. Sie fordern europäische Regelungen beim Asylrecht, ohne in der Zwischenzeit unsere eigenen Praktiken zu verändern. Die andere mögliche Haltung wird diktiert von Menschenrecht und moralischer Haltung. Sie besteht darin, jetzt und gleich Leben zu retten."

DPA · AFP
jen