Frankreichs Zeitungen zu den Rentenreform-Protesten "Wie konnten wir nur so tief fallen?"

Wie lange arbeitest du, Frankreich? Am Dienstag haben die Proteste und Streiks gegen die geplante Rentenreform einen neuen Höhepunkt erreicht; auch am Mittwoch wird wieder mit Behinderungen im Schienenverkehr gerechnet. Die französische Presse kommentiert.

Mit 60 soll weiterhin Schluss sein: Frankreichs Bürger stemmen sich mit aller Macht gegen die Rentenreform der Regierung Sarkozy. Diese sieht vor, das Mindestalter für den Renteneintritt um zwei Jahre zu erhöhen. Die französische Presse kommentiert.

"Libération"

Wie fast alle französischen Zeitungen kommentiert die Pariser "Libération" die schärfer werdenden Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich und rät der Regierung, den Unmut der Straße ernst zu nehmen:

"Egal, ob wir den Zahlen der Polizei glauben oder denen der Gewerkschaften: Die Zahl der Demonstranten von gestern hat den Rekord der beiden letzten Jahrzehnte geschlagen. Die Schüler haben begonnen, sich den Demonstrationen anzuschließen. Die Streiks sind unbefristet. (...) Angesichts dieser Situation sieht die Regierung voller Angst, dass die Lage riskant werden könnte. Sicherlich, in den kommenden Tagen wird sie an ihrem Kurs festhalten. Sie wird darauf wetten, dass den Streikenden die Luft ausgeht. Und darauf setzen, dass die Behinderungen des täglichen Lebens unpopulär werden. Die Regierung wäre dennoch gut beraten, über neue Zugeständnisse nachzudenken."

"Midi Libre"

Die Zeitung "Midi Libre" aus dem südfranzösischen Montpellier kritisiert Gegner wie Befürworter der Rentenreform gleichermaßen:

"Wie konnten wir nur so tief fallen? Dieses paradoxe Frankreich, das noch vor sechs Monaten eine Rentenreform wünschte, klammert sich nun an Banderolen und ist dabei, vor seinen Schulen Barrikaden zu errichten. Dies ist das Bild einer kranken Republik, und wir alle tragen einen Teil der Verantwortung. Die Regierung hat zwei Fehler begangen. Erst wollte sie zu schnell gehen, indem sie das Volk kurz vor dem Sommer überrumpelte. (...) Dann hat Präsident Nicolas Sarkozy, der den großen Fragen immer ausweicht, die Auswirkungen dieses Vorgehens auf die öffentliche Meinung heruntergespielt. Auf der anderen Seite regiert Verantwortungslosigkeit. Die Sozialistische Partei betätigt sich als Brandstifter, indem sie vor Zusammenstößen warnt."

"L'Est Républicain"

Die Regionalzeitung "L'Est Républicain" aus dem ostfranzösischen Nancy fragt sich, wie Präsident Nicolas Sarkozy nun auf die Massenproteste gegen die Rentenreform reagieren wird:

"Nicolas Sarkozy hat keinen Ballast mehr abzuwerfen. Er hat nur noch die Wahl zwischen Unbeugsamkeit und dem politischen Tod. Der Staatschef kann darauf setzen, dass den Protesten die Luft ausgeht, wenn das Gesetz erst mal verabschiedet wurde. Und dass die Bewegung in der Bevölkerung weniger Unterstützung erhält, wenn es ein Chaos bei den öffentlichen Verkehrsmitteln gibt. Die Position der Gewerkschaften ist genauso schwierig. Sie fürchten, dass sie von der Basis überrumpelt werden könnten. Kurz, die Protestierenden führen den Tanz an und lassen nicht erkennen, was letztlich ihre Ziele sind."

"La Croix"

Die katholische Tageszeitung "La Croix" spekuliert darüber, dass ein Scheitern der Proteste sich zu einem Vorteil für die Opposition wandeln könnte:

"Dieser Streik am 12. Oktober hatte nichts von dem angekündigten Wendepunkt. Für die Gewerkschaften ist die Fortsetzung unklar. Eine Radikalisierung oder unbegrenzte Fortsetzung der Streiks kann schwerwiegende Folgen für viele Angestellte und für eine angeschlagene Wirtschaft haben. Die Opposition stand zwar auf der Seite der Demonstranten, doch innerhalb der sozialistischen Partei gibt es unterschiedliche Meinungen über die Rentenreform. Es könnte für die Sozialisten möglicherweise von Vorteil sein, wenn die Reform durchkommt. Dann könnten sie die Unzufriedenheit der Franzosen nutzen um im Fall ihres Wahlsieges die Reform abzuändern. Eines ist jedoch allen klar: die Lebensarbeitszeit muss verlängert werden."

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AFP/DPA