Mark Bartolini, 43, Nahost-Direktor der Hilfsorganisation "International Rescue Committee", über die Not der Menschen im Irak, die Gefahr eines Bürgerkriegs und die Unmöglichkeit, Hilfskräfte zu entsenden
Herr Bartolini, was brauchen die Menschen im Irak am nötigsten?
Sie brauchen Sicherheit. Im Moment herrscht das Chaos. Es ist alarmierend, dass nicht einmal Krankenhäuser von den amerikanischen und britischen Soldaten ausreichend Schutz bekommen, obwohl das Militär laut Genfer Konvention verpflichtet ist, die Sicherheit der Zivilbevölkerung zu gewährleisten. Wir wissen von Krankenhäusern, die schließen mussten, nachdem sie geplündert wurden. Die Patienten wurden buchstäblich auf die Straße gesetzt. In den Straßen verwesen Leichen. Wir können nur hoffen, dass das Militär die Lage schnell in den Griff bekommt.
Und wenn das nicht gelingt?
Die Situation könnte weiter außer Kontrolle geraten, und das wäre ausgesprochen riskant. Es besteht das Risiko eines Bürgerkriegs. Stabilität ist von entscheidender Bedeutung. Deshalb sollte sich die Armee lieber darum kümmern, die Ordnung wieder herzustellen, als ihre letzten verbliebenen militärischen Ziele zu erreichen. Die Hilfslieferungen müssen innerhalb der nächsten Tage anlaufen.
Warum haben Sie nicht längst damit begonnen?
Wir dürfen nicht. Die Militärführung bestimmt, welche Gebiete freigegeben sind und welche nicht. Die Gegend um Basra war kurz freigegeben, doch jetzt kommen wir nicht mehr rein. Man blockiert uns, und wir sind nicht glücklich darüber, dass uns das Militär nicht ins Land lässt mit der Begründung, die Lage sei zu gefährlich. Die Entscheidung, ob es tatsächlich zu gefährlich ist, möchten wir selbst treffen - und natürlich würden wir keine Hilfskräfte entsenden, wenn wir der Meinung wären, damit das Leben unserer Mitarbeiter zu gefährden. Wenn das Militär nicht in der Lage ist, den Menschen selbst zu helfen, hat es die Pflicht, Hilfe ins Land zu lassen.
Was wissen Sie über das Ausmaß der Not im Irak?
Wir wissen nur, dass dieser Krieg viele Tote und Verletzte gefordert hat. Wir haben keine genauen Zahlen, aber es sind sicher Tausende, wahrscheinlich Zehntausende - darunter auch ungezählte Zivilisten. Das bedeutet etliche Familien ohne Väter, ohne Ehemänner, ohne Einkommen, viele Witwen und Waisen, viele Menschen, die sich auf ewig an den Horror erinnern werden, den sie gesehen und erlebt haben. Selbst die Freude über den Sturz von Saddam Hussein wird nur kurz währen, wenn nicht einmal die Grundbedürfnisse der Menschen gestillt werden. Es gibt keinen Strom, es gibt kein Wasser. Etliche Kinder sind unterernährt, und nun drohen ihnen Krankheiten durch bakteriell verseuchtes Wasser. In der Bevölkerung wird es einen enormen Aufschrei gegen die internationale Gemeinde geben, wenn es uns nicht schnell gelingt, Hilfe zu leisten.
Könnten Sie umgehend handeln, wenn man Sie ins Land ließe?
Das ist das nächste Problem: Unsere Möglichkeiten sind sehr begrenzt. Es gibt nur eine Hand voll Hilfsorganisationen vor Ort mit sehr wenigen Leuten. In Afghanistan hatte allein unsere Organisation - das "Internationale Rettungskomitee" - 1200 Mitarbeiter im Land stationiert, schon bevor die Militäraktion gegen das Taliban-Regime begann. Im Irak dagegen stellt meines Wissens "Care" mit nur 60 Mitarbeitern das größte Kontingent an Helfern.
Gibt es auch Lichtblicke?
Wir haben bisher keine Massenflucht von Millionen von Menschen erlebt. Das ist eine große Erleichterung, denn eine Flucht kostet erfahrungsgemäß viele Menschenleben. Außerdem sollte die Versorgung mit Nahrungsmitteln gewährleistet bleiben, wir werden wohl keine Hungersnot sehen. Das große Problem im Moment sind, wie gesagt, sauberes Wasser und die Sicherheit der Menschen.