„Sperre drei Engländer auf eine Insel, und innerhalb einer Stunde haben sie ein Klassensystem erfunden.“ Der Satz stammt vom englischen Dramatiker und Schauspieler Alan Ayckbourn, selbst ein Sir. Er muss es ja wissen, und früher war das bestimmt auch so. Früher war das nämlich relativ simpel mit der Klassenzugehörigkeit in Großbritannien, weil hörbar. Die lower classes neigten nach übereinstimmender Gelehrtenmeinung dazu, Konsonanten zu verschlucken. Wohingegen die Mitglieder der upper class eher Vokale verschluckten. Die profane Frage nach der Uhrzeit ließ demnach eindeutige Rückschlüsse auf den Status zu, schreibt die Anthropologin Kate Fox. Aus „half past ten“ wurde entweder „ah pass ten“ (lower class) oder bündig, denn Zeit ist Geld: „hpstn“ (upper class).
Hpstn gefällt mir sehr.
Inzwischen verwischen sich aber die Grenzen, und die Sprache als Standesmerkmal dient augenscheinlich aus. Der frühere Tory-Minister David Mellor, ein Vertrauter der Königin, fuhr kürzlich nach einem ausgiebigen Mittagessen und Mittagtrinken Taxi und darin den Fahrer an. Und zwar ganz und gar ohne die Vokale zu verschlucken. Mellor sagte, der Fahrer sei ein Bastard und ein kleines Stück Scheiße und darüber hinaus ein „stupid, sweaty little git“, ein blöder, schwitzender, kleiner Depp. Ein Satz kerzengerade und mit vielen Vokalen. Er sagte auch ungefähr ein Dutzend mal „fucking“ oder „fuck“, auch das gelang ihm spielerisch leicht; er scheint darin Übung zu haben. Die beiden hatten sich über den richtigen Weg zur Mellorschen Villa gestritten, an sich das Übliche. Nicht üblich war, dass der Fahrer die Suada mit dem Smartphone aufnahm. Mellor drohte noch, die ganze Geschichte anderntags in seiner wöchentlichen Radiosendung zu erzählen und den Cabbie bloßzustellen. Es kam dann umgekehrt; der Fahrer spielte die Aufnahme der „Sun“ zu. Und Mellor hat seitdem ein Problem.
Er wünschte sich heute, er hätte nichts gesagt oder genuschelt oder alles verschluckt. Nicht nur Vokale, seine ganze fucking Suada.
David Mellor teilt dieses Schicksal mit einem anderen Prominenten seines Standes: Andrew Mitchell, gleichfalls Tory. Mister Mitchell verlor im September 2012 seinen Job als „chief whip“, als Einpeitscher seiner Partei, weil er in der Downing Street Polizisten am Eingangstor als „fucking plebs“ bezeichnet hatte; sie hatten ihn aufgefordert, von seinem Rad zu steigen und das Fußgängertor zu benutzen wie alle anderen auch, gewissermaßen das Plebgate. Auch diese Geschichte stand dann in der „Sun“, die Mister Mitchell daraufhin umgehend verklagte. Der Skandal heißt in den hiesigen Medien nur „Plebgate“. In der vergangenen Woche verlor er nun vor Gericht. Der Richter glaubte dem Polizisten, vielleicht auch deshalb, weil Mitchell eine stattliche Geschichte von keinesfalls genuschelten oder Vokal-verschluckten Ausfällen hat, alle bestens dokumentiert, mehr als ein Dutzend an der Zahl. In seiner Partei hieß er einst „Thrasher“, Drescher. Das muss ja irgendwo her kommen. Er bepöbelte, meistens auf dem Rad unterwegs, immer wieder Polizisten und benutzte oft das auch vom Kollegen Mellor gern gebrauchte „you little shit“. Nun steckt er selbst ziemlich tief drin, deep shit. Die politische Karriere liegt vorerst auf Eis.
David Mellor wurde früher "Minister of Fun" genannt
Die Verrohung der Sitten fällt in diesem Land besonders auf, weil Briten äußerst liebliche Umgangsformen pflegen und man in Läden recht selbstverständlich mit „love“, „darling“, „sweetie“ oder auch „duck“ begrüßt wird, das ist ganz normal, leicht bekömmlich und verzuckert das tägliche Miteinander. Man fragt sich auch vor diesem Hintergrund in Britannien, was mit den Eliten des Landes los ist, die fluchen und schimpfen und pöbeln, fuck statt duck sagen und sich – Gipfel der Peinlichkeit – mit ihrem Stand brüsten. Der angeschickerte Mellor fragte den Fahrer tatsächlich, ob der wisse, wer er sei. Natürlich wusste er. Denn Mellor ist bekannt wie ein bunter Hund. Nationale Berühmtheit erlangte er Anfang der 90-er Jahre durch eine Affäre mit der so genannten Schauspielerin Antonia da Sancha. Er war seinerzeit kurz als Minister für Nationales Erbe tätig, verlor über die Affäre seinen Job und seine Frau. Bis heute wird die schöne, wenn auch nicht unbedingt glaubwürdige Geschichte verbreitet, Sir David habe Frau da Sancha gerne im Trikot des Fußballvereins Chelsea London beschlafen und überdies ausgiebig an ihren Zehen genuckelt. Mellor wurde auch „Minister of Fun“ genannt.
Seine neue Lebensgefährtin, Penelope Ann Cooper, die Viscountess of Cobham, also Lady Cobham, sieht nicht so aus, als würde sie viel Spaß verstehen und etwa Davids Vorliebe für Chelsea-Jerseys im Schlafzimmer teilen. Zehen nuckeln vielleicht. Aber Trikot? Andererseits: Wer weiß das schon? Denn die Oberen Zehntausend sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Nicht mal mehr ihre Wortwahl. Die Wortwahl schon gar nicht.
Der Earl sprach: "Setzen Sie den Butler auf die Rechnung"
Alles ist offenbar im Fluss. Oben kann ganz unten sein und umgekehrt.
In der BBC läuft zur Zeit eine Serie über das High-Society-Magazin „Tatler“, eine britische Institution seit 1709. Aber selbst Institutionen wandeln sich und müssen mit der Zeit gehen. Vielleicht auch deshalb, weil die upper class auf dem absteigenden Ast ist. Tatler porträtiert längst nicht mehr nur alten Adel, höchste Kreise oder Königshaus, sondern auch die neuen Reichen aus Russland, Saudi Arabien oder Nigeria. Alte Lords tauchen natürlich immer noch auf, das ist ein Standard und ein Muss. Einer, Patrick Boyle, der zehnte Earl of Glasgow, erzählte neulich in der Sendung von früher und seinen ruppigen Vorfahren. Der fünfte Earl of Glasgow neigte offenbar zu Ungeduld und Jähzorn und schubste im 19. Jahrhundert einen etwas schwerfälligen Bediensteten durchs Fenster. Stille im Raum und peinliches Schweigen. Dann sprach der Earl: „Setzen Sie ihn auf die Rechnung.“
Das war natürlich nicht schön, das war sogar ziemlich ungehörig. Aber es klang allemale authentischer und irgendwie standesgemäßer als ein schnödes „fucking plebs“ oder „little shit“.