Last Call Promis, Promille – und die nüchterne Statistik

Alkohol spielt im britischen Alltag eine nicht unerhebliche Rolle. Wenn man bei „Google“ die Vokabel „drunk“ eingibt und zugleich auf „news“ klickt, erscheinen 388 000 Treffer. Das sind verdammt viele Nachrichten zu diesem Thema. An oberster Stelle steht zur Zeit wieder Paul Gascoigne, der frühere englische Fußball-Nationalspieler, der abermals in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Wodka.

Die Zeitungen, vor allem die Groschenblätter, sind voll mit Geschichten über Gascoigne, 47. Es ist eine fortlaufende Saga aus Trockenphasen und Rückfällen. Eigentlich wollte er gerade wieder anfangen mit dem Fußball beim Abbey FC, einem Amateurklub. Das wird nun nichts. Vorerst nichts. Vielleicht auch nie was. Vor ein paar Jahren hat er ein Buch herausgebracht. Es hieß „Being Paul Gascoigne“, und er beschrieb darin seine Ängste und auch seine Frustration über die Sucht. Er beschrieb sehr nüchtern und klar, dass es ihn auf Dauer umbringen werde. Und er beschrieb, dass es wieder passieren werde. Und wieder.

Er hatte Recht. Es ist wieder passiert. Paul Gascoigne hat sieben Entziehungskuren hinter sich.

Irgendwann werden die Zeitungen seinen Nachruf drucken mit Bildern von seinen Erfolgen. Und seinen Abstürzen.

Die hiesigen Zeitungen drucken überhaupt gerne Fotos von angetrunkenen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Promis und Promille verkauft sich immer. Und sie delektieren sich an Episoden über die angeheiterte Kate Moss auf einem „Easy Jet“ Flug vom türkischen Bodrum nach London-Gatwick. Oder angeheiterte Prinzen. Und immer wieder angeheiterte Fußballprofis. Nach der WM gab es Schnappschüsse von englischen Nationalspielern, die in einem Pool in Las Vegas saßen und rauchten und ein bisschen tranken. Natürlich gelobten sie danach Besserung. Das tun sie immer. Eigentlich vergeht kein Tag ohne irgendeine komische Geschichte, in der die Vokabel „drunk“ auftaucht.

Man könnte meinen, die Bewohner Großbritanniens würden ihre Freizeit ausnahmslos in Pubs verbringen. Erstaunlicherweise ist das Gegenteil der Fall. Der Pub, die ikonische Stätte, verliert ständig an Strahlkraft. Jede Woche schließen 30 Kneipen im Land. Im Schnitt zieht es Engländer weniger als zweimal in der Woche an den Tresen, und die Besitzer beklagen bereits das Ende der gepflegten Trinkkultur. Der Alkoholkonsum von Erwachsenen sinkt seit Jahren. Die Zahl der Briten, die jeden Tag Alkohol trinken, sank von 22 auf 14 Prozent. Im internationalen Vergleich trinken Briten sogar weniger als Deutsche. Und zwar erheblich weniger. Die Champions League-Tabelle der Biertrinker führen die Tschechen an (160 Liter pro Kopf und Jahr). Die Deutschen liegen auf Platz drei, die Briten auf Rang sechs.

Das sind die puren Zahlen.

Sie reflektieren aber nicht die gefühlte Wahrnehmung. Die gefühlte Wahrnehmung ist offenbar eine andere. Die Stadt London will demnächst so genannte „sobriety tags“ einführen, eine Art elektronische Fessel für chronische Zecher, die nach dem Verzehr von promillehaltigen Getränken verhaltensauffällig wurden. Das Gerät misst den Alkoholpegel alle 30 Minuten und sendet die Daten an die Behörden. Wiederholungssäufer müssen schlimmstenfalls mit Knast rechnen. Die Stadt will damit die Alkohol-indizierten Verbrechen bekämpfen. Im US-Bundesstaat South Dakota hat das mit der Fessel offenbar gut funktioniert. 99 Prozent der Bewährungsschlucker blieben trocken. Cheers.

Es sind keine guten Zeiten für passionierte Hobby-Trinker in Großbritannien. Alles wird erfasst und gemessen und in trockene Statistiken gegossen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO gibt regelmäßig einen Report heraus über die Trinkgewohnheiten auf dem Planeten. Das sind ziemlich freudlose Zahlen und Erhebungen über Leberkrankheiten und Lebenserwartung. Wenn man den Bericht studiert hat, möchte man am liebsten in die Kneipe. Sogar als Nicht-Trinker.

Wir haben einen wunderbaren Pub in unserer Gegend. Das ist eine Untertreibung. Wir haben mindestens ein Dutzend toller Pubs in unserer Gegend. Unser Pub ist regelmäßig gut besucht; es sitzen fast immer dieselben dort ab sechs Uhr abends. Man kann in diesem Pub auch draußen sitzen, und wenn es kalt wird, stellen sie die Heizstrahler an. Wir als Deutsche sind immer wieder überrascht, wie lange die Leute draußen sitzen in T-Shirts und Shorts. Männer wie Frauen. Sie sitzen auch im März schon draußen in T-Shirts und Shorts und trinken Bier. Ein schönes Bild.

Jede Kneipe hat auch ihren eigenen Philosophen. Unser heißt Mark und wechselt mit jedem Pint mehr seinen Aggregatzustand. Kurz vor dem „Last Order“ gegen elf zitiert er gern den irischen Dichter Brendan Behan, für den er sich ab spätestens zehn Uhr auch hält: „I only drink on two occasions – when I’m thirsty. And when I’m not.“ Ich trinke nur zu zwei Anlässen. Wenn ich Durst habe und wenn nicht.

Meistens taucht Marks Frau auf, wenn er den Behan-Zustand erreicht hat. Er hat eine kleine, japanische Frau mit einem sehr strengen Blick. Sie entert den Pub und guckt nur. Es wird ganz still im Pub, wenn die Frau guckt. Dann muss Brendan Behan gehen.