Der Mann, dem die Welt das Sandwich verdankt, hätte sich nicht träumen lassen, dass er 200 Jahre später mit seiner Erfindung eine große politische Debatte auslösen würde. Es geht dabei um Ungarn und UKIP. Es geht um das, was Großbritannien zur Zeit bewegt. Immigration und Arbeitsplätze.
Das Sandwich hat es verdammt weit gebracht im Laufe der Jahre.
Am allerwenigsten hätte das wohl sein Urahn gedacht. John Montagu (1718-1792), vierter Earl des südenglischen Küstenstädtchens Sandwich in Kent, war im Jahre 1762 derart in ein Kartenspiel vertieft, dass er darüber zu essen vergaß und seine Angestellten anwies, einfach etwas Fleisch zwischen zwei Scheiben Brot zu schieben, um möglichst unterbrechungsfrei weiterspielen zu können. John Montagu hatte damit en passant den ersten überlieferten Snack der Weltgeschichte ersonnen und gilt on top als Patron einer sexuellen Spielart. Was er, leidenschaftlicher Spieler selbst, vermutlich eher goutiert hätte als jene Diskussion, die nunmehr die Nation beschäftigt, nämlich: Können Briten noch Brote schmieren? Oder müssen englische Stullen künftig in Ungarn hergestellt werden.
Denn das ist das Dilemma im modernen Großbritannien. Der 11. Earl von Sandwich, auch er heißt natürlich John Montagu und ist Chef der Schnittchenfirma Greencorp Group, will aus Kostengründen künftig die legendären Weißbrote in Ungarn von günstigeren Arbeitskräften bestreichen und belegen lassen. Die national gesinnte „Daily Mail“ erhob das ganze selbstverständlich zum nationalen Notstand und fragte: „Gibt’s in Britannien niemanden mehr, der ein Sandwich machen kann?“
Cameron reiste fünfmal nach Rochester. Gebracht hat es nichts
Die Weißbrot-Diskussion, muss man wissen, passt zur politischen Stimmungslage. In Rochester und Strood, Kent, waren am Donnerstag Nachwahlen, und die Europagegner von UKIP holten dort ihren zweiten Parlamentssitz durch einen zweiten Überläufer. Mark Reckless, vor zwei Monaten noch Tory-Abgeordneter, gewann mit 42 Prozent.
Das ist besonders bitter für Premier David Cameron, der gleich fünfmal in Kent auflief und außerdem angeordnet hatte, jeder verfügbare Tory-Abgeordnete habe gefälligst in Rochester und Strood zu erscheinen und Wahlkampf für die Partei zu machen. Was die Parlamentarier einigermaßen widerwillig erledigten und doch nicht verhindern konnten, dass ihnen der ehemalige Kollege die Butter vom Sandwich nahm.
Obschon Reckless, das macht die Sache noch bedenklicher, gewiss nicht zu den hellsten Politikern des Landes gehört. Er brachte es fertig, sich und UKIP gerade zwei Tage vor der Wahl noch rechtschaffen zu blamieren. Bei einer Wahlversammlung sprach er davon, Immigranten auch aus der EU nur eine begrenzte Aufenthaltsgenehmigung zuzugestehen. Und sie gegebenenfalls abzuschieben, falls Britannien sich wie gewünscht aus der Union zurückzieht. Das waren selbst für UKIP-Verhältnisse außergewöhnlich dumme Einlassungen.
Dem eigenen Parteichef Nigel Farage war das offenbar peinlich, auch das will etwas heißen, und er sagte, der Kollege Reckless sei wohl etwas müde gewesen vom anstrengenden Wahlkampf in Kent und „confused“, aber Reckless widersprach putzmunter, „bei mir gibt es keine Verwirrung“.
UKIP-Wähler würden die Uhren am liebsten 30 Jahre zurückdrehen
Am Donnerstag feierte Reckless dann seinen Wiedereinzug ins Parlament, diesmal für UKIP, sieben Prozentpunkte Vorsprung und keine Überraschung. Es war wieder ein großer Tag für UKIP, die Tories abgeschlagen, Labour auf den Plätzen, die Liberalen mit nicht mal einem Prozent unter der Wahrnehmungsschwelle der Bedeutungslosigkeit. Den großen Parteien gehen nun die Rezepte aus, und Panik greift um sich. Ein Viertel der Briten ist inzwischen dafür, alle Immigranten loszuwerden. Ob legal oder illegal. Egal. Alle. Der Think Tank „British Future“ warnt davor, dass die UKIP-Populisten immer mehr Zulauf bekommen, je härter die Rhetorik gegen Anti-Europäer wird. Was also tun? Ist auch nicht so ganz einfach.
Der gemeine UKIP-Sympathisant tickt nämlich anders und würde die Uhren in Britannien gerne zurückdrehen, wie die Meinungsforscher von YouGov ermittelten. Und zwar nicht nur wegen der Winterzeit, sondern richtig und am liebsten gleich um 30 Jahre. Zurück in die 80-er Jahre, zurück ins Früher, als natürlich alles besser war und in Butter. Oder auch nicht. Damals regierte Thatcher, selig. Das Land war zerrissen und von Streiks gebeutelt. Aber es gab in der Tat kaum Rumänen, Polen, Bulgaren und Ungarn auf der Insel, weil die noch hinter einem eisernen Vorhang hockten und nicht mal Sandwiches schmieren konnten. Das Problem ist, dass es bislang noch keine Partei geschafft hat, die Uhren 30 Jahre zurückzustellen. Daran arbeiten sie noch.
Die Konservativen haben in ihrer Not schlicht die UKIP-Rhetorik übernommen. Sie mäkeln an Europa, sie wollen den Zuzug beschränken. Sie drohen und dröhnen zunehmend über EU-Austritt und klingen wie UKIP light. Genutzt hat es nichts. Die Leute in Rochester haben dann doch das Original gewählt, und vermutlich werden weitere Tories überlaufen, mindestens zwei. Behauptet der Überläufer Mark Reckless, der frühere Tory.
Er passt im Übrigen gut zu UKIP. Er redet rückwärtsgewandt, 30 Jahre mindestens. Und sein Name ist Programm. Reckless heißt rücksichtslos und unbesonnen.