Lobbyismus in den USA Wissen ist Macht

Von S. Muscat und A. Dörner
Barack Obama ist bei der Gesundheitsreform eingeknickt. Ein Grund: Der Lobbyismus hat in den USA wieder Oberhand. Den Strippenziehern in Washington geht es so gut wie selten zuvor.

Während des Sommers gehört der Kapitolshügel den Touristen. In Shorts und Turnschuhen stehen sie Schlange, um von der Besuchertribüne einen Blick in den Senat zu werfen. Im August sieht man dort allerdings nur leere Stühle. Die Abgeordneten des US-Kongresses sind längst in ihre Wahlkreise oder in die Ferien entflohen.

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...wurde übernommen aus der aktuellen Ausgabe der "Financial Times Deutschland"

Nur in einem Bürogebäude an der Südseite des Parlamentsgebäudes steht die Politik nicht still. Nick Allard steigt aus dem Taxi, auf der Nase eine Brille mit breitem Rand, in der Brusttasche ein weißes Einstecktuch. Seine Mandantin empfängt ihn vor dem Eingang. 10.30 Uhr, Raum 2125 - hier wartet sein nächster Auftrag. Hier soll Allard seine Beziehungen spielen lassen und den Mitarbeitern des Energie- und Handelsausschusses im Repräsentantenhaus die Interessen von Nextwave Wireless nahebringen, einem Kommunikationsunternehmen aus Kalifornien. Es geht um Frequenzen für drahtloses Internet und deren Nutzung.

Lobbyisten fürchteten harte Zeiten

Allard ist in der Anwaltskanzlei Patton Boggs für den Bereich Lobbyarbeit zuständig und macht in diesen Tagen das Geschäft seines Lebens. Gesundheitsreform, Energiewirtschaft, Neuordnung der Finanzmärkte - ausgerechnet unter Präsident Barack Obama blüht die Branche auf.

Der Demokrat war angetreten, um die Macht der Lobbys zu brechen und das intransparente Netz von Politik und Wirtschaft zu entflechten. Die Regierung solle "kein Werkzeug für Lobbyisten" sein, sondern ein "Verteidiger von Fairness und Chancengleichheit", hatte er im Wahlkampf gefordert. Am Tag nach seinem Amtsantritt machte er Ernst und verordnete eine Reihe neuer Ethikregeln: Selbst kleinste Geschenke an Abgeordnete sind jetzt tabu. Und der mühelose Wechsel der Lobbyisten zwischen einem Amt in der Regierung und Lobbyarbeit ist unmöglich. Washingtons Lobbyisten fürchteten harte Zeiten. Das Gegenteil ist der Fall.

Die Umsätze der professionellen Strippenzieher seien auf dem besten Weg, den Rekord von 3,3 Milliarden Dollar aus dem letzten Jahr zu brechen, sagt Dave Levinthal vom Center for Responsive Politics (CRP), einer Nichtregierungsorganisation, die solche Daten sammelt. Mehr als 18 Millionen Dollar hat allein Marktführer Patton Boggs im ersten Halbjahr kassiert. Kein Wunder, dass die Interessenvertreter die Hauptstadt belagern.

Firmen zahlen Millionensummen

Verantwortlich für den Ansturm ist nicht zuletzt Präsident Obama selbst. "Wir haben eine aktivistische Regierung, die eine Reihe gewaltiger Gesetzgebungsprogramme in Angriff genommen hat", sagt Lobbyist Allard. 263 Millionen Dollar sind nach Angaben des CRP in diesem Jahr in Lobbyaktivitäten für oder gegen die Gesundheitsreform geflossen, mehr als 50 Millionen Dollar wurden für Fernsehwerbekampagnen zu diesem Thema ausgegeben. Und vor der Abstimmung über das Klimaschutzgesetz im Repräsentantenhaus hatten nach Angaben des gemeinnützigen Center for Public Integrity 1150 Interessengruppen versucht, Einfluss auf den Entwurf auszuüben.

Ob Megareformen, Konjunkturprogramme oder mehr Regulierung: Der Staat greift stärker als je zuvor ins Wirtschaftsleben ein. Die Unternehmen suchen fieberhaft nach Wegen, möglichst viel Profit aus den Veränderungen zu schlagen. Deshalb zahlen sie Firmen mit guten Kontakten zu den Gesetzgebern oder mit Insiderkenntnis der neuen Rechtsvorschriften Millionensummen. "Die Gelder aus dem Konjunkturprogramm fallen nicht wie Manna vom Himmel, man muss sie sich holen", sagt Allard. Und so machen die Juristen von Patton Boggs derzeit viele Überstunden, um Anträge auf Fördermittel für erneuerbare Energien und Breitbandinternet so zu formulieren, dass sie den Kriterien entsprechen.

Ausgerechnet der Regierungsstil Obamas hat den Lobbys paradiesische Zustände beschert. Der Präsident hat keine strengen Vorgaben für seine Gesetze gemacht und lässt dem Kongress bei der Ausgestaltung der Reformen freie Hand. Ganz anders als Bill Clinton beim ersten Versuch einer Gesundheitsreform. Der ehemalige Präsident hatte in den 90er-Jahren dem Kongress seinen fertigen Vorschlag auf den Tisch geknallt - und war damit gescheitert.

In diesem Jahr kursiert eine Vielzahl von Entwürfen in den Ausschüssen von Senat und Repräsentantenhaus, und die Apparate der Pharmaindustrie, der Krankenhäuser, der Versicherer, der Rentner und der Ärzte laufen auf Hochtouren. Die mächtige Pharmalobby PhRMA hat in den ersten drei Monaten des Jahres ihre Ausgaben um 92 Prozent erhöht, auf 6,9 Millionen Dollar.

Bisher hatte der Präsident den Moralapostel gegeben, nun steckt er plötzlich mittendrin in der altbekannten Art, in Washington Politik zu machen. Sein erster Sündenfall passierte ausgerechnet bei seiner wichtigsten Reform. "Die Pharmaindustrie ist bereit, das Gesundheitssystem in den nächsten zehn Jahren um 80 Milliarden Dollar zu entlasten", lobte Obama im Juni das eigene Verhandlungsgeschick. Damit sicherte er sich die Zuneigung der Senioren, die durch diese Vereinbarung in Zukunft weniger für Medikamente zahlen sollen.

Hinterzimmerdeal erster Klasse

Mit dem Krankenhausverband handelte das Weiße Haus aus, dass die Kliniken in den nächsten zehn Jahren auf 155 Milliarden Dollar verzichten sollten, indem sie der staatlichen Krankenversicherung für Senioren, Medicare, niedrigere Rechnungen stellten.

Das Abkommen mit der Pharmaindustrie war ein Hinterzimmerdeal erster Klasse, einer jener Sorte, wie sie unter Obama in Washington eigentlich nicht mehr vorkommen sollten. Die Industrie erkauft sich damit den Schutz ihrer Patentrechte und muss sich nicht mehr vor billigen nachgemachten Medikamenten aus dem Ausland, sogenannten Generika, fürchten. Dafür sagt sie Obama ihre Unterstützung zu, die für die Reform lebenswichtig ist.

Das Weiße Haus hat die Abmachung mit Unterstützung des Finanzausschusses ausgehandelt. Das Repräsentantenhaus blieb bei Obamas Deals außen vor - und droht nun, die Vereinbarung platzen zu lassen. Die Abgeordneten sind sauer und fordern weit größere Zugeständnisse. Der Verband ist empört. "Uns wurde versichert: Wenn ihr die Ersten seid, bekommt ihr einen felsenfesten Deal", polterte PhRMA-Chef Billy Tauzin in der "New York Times". "Wer wird noch einen Abmachung mit den Weißen Haus eingehen, wenn die ihr Wort nicht halten?"

"Obama ist selbst der größte Lobbyist"

Die unangenehme Arbeit, so erzählt man in Washington hinter vorgehaltener Hand, lasse der Präsident gern seinen Stabschef Rahm Emanuel erledigen. Emanuel kommt selbst aus dem Kongress, und er hat den Ruf, die früheren Kollegen mit Drohungen unter Druck zu setzen. Ein geeignetes Mittel sind die im nächsten Jahr anstehenden Kongresswahlen. Wer jetzt querschießt, setzt sich der Gefahr aus, im Wahlkampf ohne die Unterstützung des Weißen Hauses auskommen zu müssen.

"Obama ist selbst der größte Lobbyist", schmunzelt Allard. Um die Botschaft des Weißen Hauses zu transportieren und das Volk und den Kongress für sich zu gewinnen, hat der Präsident seine eigene Strategie entwickelt. Er fährt quer durchs Land, um in Gemeindeversammlungen, sogenannten Townhall Meetings, die Fragen der Bürger zu beantworten.

Außerdem preist er seine Vorhaben regelmäßig zur Hauptsendezeit im US-Fernsehen an. Wie als Präsidentschaftskandidat sucht er den Kontakt zur Basis - etwa über seinen E-Mail-Verteiler aus dem Wahlkampf. "Wir haben uns einen einfachen, wirksamen Weg ausgedacht, mit dem Sie einen großen Eindruck machen können", heißt es in den Mails, die Abonnenten in diesen Tagen in ihren Postfächern finden. Die Obama-Kampagne empfiehlt: Besuchen Sie Ihren lokalen Abgeordneten und äußern Sie Ihre Unterstützung für die Gesundheitsreform.

Alles ist wie früher

Es ist wie früher. Im täglichen Umgang mit Regierung und Kongress "ist eigentlich alles beim Alten geblieben", sagt ein Lobbyist der Finanzindustrie, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte.

Auch Allard kann sich nicht beklagen. Mit seiner Mandantin vom Internetunternehmen Nextwave Wireless war er schon oft in Washington. Er hat es geschafft, dass die Regulierung der Internetfrequenzen im vergangenen Dezember immerhin auf der Tagesordnung der Regulierungsbehörde FCC stand. Doch dann gab es wieder keine Entscheidung, die FCC war mit der nationalen Umstellung auf digitales Fernsehen völlig ausgelastet.

Jetzt geht der Kampf von vorn los, mit einer neuen Regierung und einem neuen Kongress. Den neuen Ansprechpartnern mussten Allard und seine Mandantin den Sachverhalt wieder von vorn erklären. Das braucht Geduld. "Heute sind wir wieder einen Schritt vorangekommen", sagt Allard. So läuft das Geschäft.

FTD