Es ist Nacht in Bagdads Mittelklasse-Viertel Zayouna, von irgendwo wird geschossen. Rauch liegt in der Luft, und ab und an segeln Aschefetzen zwischen den beiden Palmen herunter. Unter ihnen sitzen sieben Männer auf Campingstühlen und schauen in die Dunkelheit. Die Nachbarschaftsmiliz von Zayouna.
Der Montag ist überstanden, der fünfte Tag, seit amerikanische Panzer Bagdad eroberten, die jahrzehntelange Diktatur Saddam Husseins einfach verpuffte und mit ihr die alte Ordnung. Es gibt keine Geheimdienstschergen, keine Gefängnisse, keine Feddayin mehr in Bagdad. Aber es gibt auch keine Polizei, keine Feuerwehr mehr in der Stadt. Auch die US-Truppen, die sich in dröhnenden Panzerkolonnen durch die Stadt bewegen, verzichten bislang darauf sich einzumischen, wenn wieder ein Haus geplündert und abgefackelt wird.
Lehren aus Jahrzehnten der Unterdrückung
Also haben sich die Männer der Straße Nr.19 zusammengesetzt und gegründet, was derzeit überall im Irak entstanden ist: ein Komitee zur Bewachung des Viertels, um Plünderer fern- und die Moral aufrecht zu halten. Ein absolutes Novum in diesem Land, wo es jahrzehntelang nichts gab, was nicht von oben gewünscht, angeordnet, organisiert war. Mehr als 30 Jahre lang gab es kein Recht und keine Freiheit im Irak. Nun klafft dort, wo bislang die Allmacht des Regimes alles reglementierte, eine gigantische Lücke. Die Lehre aus den Jahrzehnten der Unterdrückung war, dass der, der die Macht hat, sich alles nehmen kann, was er will. Und nun, wo jeder die Freiheit hat zu plündern, gibt es wenig, was zigtausende davon abhalten kann.
Bis auf die Nachbarschaftsmilizen eben: Zum ersten Mal nehmen die Menschen die Dinge selbst in die Hand. So auch in Zayouna, wo Ärzte, Beamte, Kaufleute in ihren Eigenheimen mit Garten leben. In drei Schichten halten die Männer Wache: Isur, der christliche Chemiker aus Tikrit, den sie im Viertel alle Abu Susu nennen und der lange im Libanon lebte; Fadi, sein Sohn, der vor 15 Jahren bei der maronitischen Falange-Miliz im Libanon kämpfte und seither ungern Partei ergreift, weil er sich schon einmal geirrt hat; Farhad, der Mechaniker und alleinerziehende Vater von drei Mädchen; Dr. Nafea, der bis vor einem halben Jahr am irakischen Generalkonsulat in Genf war; Dr. Mazen, der Landwirtschaftsexperte; Basil, dessen Elektronikgeschäft im Krieg untergegangen ist; Muthanna, pensionierter Offizer, der die strategisch günstig gelegene Kreuzung als Standort ausgesucht hat. Von hier aus überblickt man beide Straßen, außerdem spenden die beiden Palmen tagsüber Schatten.
Weder Widerstandskämpfer noch Parteimitglieder
Alles keine Widerstandskämpfer - aber auch keine Männer des Regimes, keine Parteimitglieder, eher jene, die sich im Schatten der Verhältnisse durchwurstelten. Basils Vater, Geschäftmann und Kommunist zugleich, saß jahrelang immer wieder im Gefängnis, der Bruder eines anderen Nachbarn, General bei den Republikanischen Garden, verschwand vor Jahren spurlos.
Nun können sie ihr Schicksal auf einmal in die eigene Hand nehmen. Und haben im Kleinen damit angefangen. Jeder der sieben von Zayouna hat etwas beigetragen, einer hat zwei Kalaschnikows besorgt, ein anderer die Plastikstühle, ein nächster die Wasserpfeife, und gestern hat Dr. Mazen sogar ein Nachtsichtgerät aufgetrieben.
Kontakt per Lichtsignal
Kontakt mit den nächsten Straßenzügen wird nachts per Lichtsignal mit Taschenlampe gehalten, dreimal blinken: Achtung, Freunde! Wer auf Zuruf nicht stehenbleibt, wird beschossen. Was bislang zweimal geschehen sei, in den ersten Abenden, als die Beutejäger aus dem Slum von Saddam City herüberkamen.
Und so sitzen sie hier, in kleiner Besetzung tagsüber zu siebt des nachts, auf Campingstühlen um die Wasserpfeife gruppiert, bewachen ihr Viertel und reden, reden, reden. Wie verteidigen wir uns gegen Plünderer. Aber auch: Was soll werden aus diesem Land? Was sollen wir von den Amerikanern halten? Einerseits sind alle froh, dass er fort ist. Andererseits haben die Brandschatzungen der Amerikaner binnen Tagen die meisten Sympathien aufgebraucht. Und so verfluchen die Männer Saddam - weil er ihnen die Amerikaner auf den Hals gehetzt habe. Erzählen sich Witze, etwa jenen, dass den ängstlich auf Nachrichten wartenden Doppelgängern Saddams gesagt wird, man habe eine gute und eine schlechte Nachricht für sie; die gute: Saddam lebt. Die schlechte: Er habe seinen rechten Arm verloren.
Zum ersten Mal fühlen Iraker sich für ihr Land verantwortlich
Issur, der Christ, verficht mit Verve, dass man die Menschen aufklären müsse, dass Religion und Politik getrennt gehörten, sonst werde alles im Bürgerkrieg enden wie damals im Libanon. Andere widersprechen, reden von der Weltverschwörung gegen den Islam, wieder ein anderer denkt schon darüber nach, wie man aus der Nachbarschaftsmiliz vielleicht eine Kommunalvertretung machen könne, die endlich für eine geregelte Müllabfuhr und Stromversorgung eintreten könne. Zum ersten Mal fühlen Iraker sich direkt für ihr Land verantwortlich, finden die sieben es unmöglich, dass die eine Nachbarstochter den Amerikanern eine Blume zugeworfen habe - während Basils Schwester seit drei Tagen den ganzen Irak als kleines, goldenes Amulett um den Hals trägt.
Die Nacht ist weit vorangeschritten, die Schüsse haben aufgehört, und unter den zwei Palmen raucht und redet das Septett aus Cafehausplauderern und Wachmannschaft noch immer. Eigentlich nichts besonderes. Und doch, für den Irak ist dies eine kleine Revolution.