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Nigeria, Dezember Die Spirale der Gewalt – das Prinzip Boko Haram

"Es war eine Reise in tiefe Abgründe": Bernard-Henri Levy im Interview
Sehen Sie im Video: "Es war eine Reise in tiefe Abgründe" – warum es Bernard-Henri Lévy immer wieder in Krisengebiete verschlägt.
Seit Jahren kommt es im Inland Nigerias zu brutalen Auseinandersetzungen. Islamistische Gruppen wie Boko Haram  profitieren von den Konflikten – sie vergrößern ihren Einfluss und rekrutieren neue Kämpfer.
von Bernard-Henri Lévy

Nigeria, im Dezember 2019. Das Mitglied einer nigerianischen Pfingstgemeinde hatte mich kontaktiert. Der Mann sagt, er leite einen Verein, der sich für die Annäherung von Christen und Muslimen einsetzt, die sich das Land teilen. Er ist 36 Jahre alt und strahlt die ironisch-entspannte Eleganz eines Barack Obama aus. Aus Sicherheitsgründen möchte er anonym bleiben.

"Kennen Sie die Fulani?", fragt er mich bei unserem ersten Treffen, in einem perfekten Englisch, wie es für die nigerianische Elite typisch ist. Allgemein betrachtet, fährt er fort, seien die Fulani ein nobles Hirtenvolk aus dem Sahel. Im Zuge der Erderwärmung müsse es mit seinen Herden beständig weiter Richtung Süden flüchten, auf der Suche nach grünen Weideplätzen. "In Wirklichkeit sind Teile von ihnen jedoch Islamisten einer neuen Art – und mehr oder weniger eng mit der Gruppierung Boko Haram verbunden."

Laut dem "Global Terrorism Index" von 2019 gehört Nigeria zu den Ländern, in denen die meisten terroristischen Anschläge verübt werden. Der Großteil dieser Aktivitäten geht auf Gruppen wie Boko Haram zurück – und, so ist zu lesen, häufig offenbar auch auf Angehörige der Fulani, die von Islamisten rekrutiert werden.

#weileswichtigist

Das Virus hat in diesem Jahr unseren Alltag geprägt – und unsere Berichterstattung. Zwischen Corona, Trump und den US-Wahlen blieb wenig Raum für andere Themen. An einige möchten wir mit #weileswichtigist erinnern: an Menschen, die im Krieg leben, in Armut oder auf der Flucht. Die Idee zu diesem Rückblick entstand in Zusammenarbeit mit dem französischen Philosophen Bernard-Henri Lévy. Er hat dieses spezielle Jahr genutzt, um aus verschiedenen Ländern zu berichten. Seine Reportagen führen uns in Kriegs- und Krisengebiete, es geht um Menschen und um das, was sie verbindet. Wir ergänzen seine Texte durch Auslands-Reportagen unserer Kolleginnen und Kollegen. Über die Stiftung stern können Sie ausgewählte Hilfsorganisationen unterstützen.

In Nigerias "Middle Belt", dem "mittleren Gürtel", hat sich der Konflikt zwischen sesshaften Bauern und nomadischen Viehzüchtern in den letzten Jahren verschärft – sie konkurrieren um die immer knapper werdenden Flächen, die sie zum Überleben brauchen. Mein Kontaktmann sieht darin jedoch auch einen politischen und ideologischen Konflikt. "Christen und andere Minderheiten werden mit einer Versessenheit getötet und verfolgt, wie sie selbst in dieser Region noch nie vorgekommen ist", sagt der Mann. "Ich flehe Sie an. Urteilen Sie selbst. Sehen Sie sich das an."

Ich hatte selbstverständlich bereits von Boko Haram gehört, dieser Sekte aus gottesfürchtigen Wahnsinnigen, die sich vor allem in die Berge und Wälder im Nordosten des Landes zurückgezogen hat. Die Radikalisierung innerhalb der Fulani hingegen war mir unbekannt. Und so machte ich mich auf den Weg nach Nigeria.

Die Männer kamen mit Macheten

Als erstes reise ich nach Godogodo im Bezirk Kaduna, im Zentrum des Landes. Dort dokumentiere ich die Aussagen von Jumai Victor, einer jungen Evangelistin. Dass ihr ein Arm fehlt, bemerkt man nicht sofort, weil sie es mit einer leichten Drehung des Körpers verdeckt. "Es war am 15. Juli", erzählt sie. "Sie kamen nachts. Auf Motorrädern mit extrem langen Sitzflächen, drei Mann pro Maschine. Sie schrien ,Allahu Akbar’". Die Männer zündeten Häuser an und töteten vier Kinder vor ihren Augen, berichtet die Frau. Dann standen sie vor ihr. Sie sahen, dass sie schwanger war, und begannen zu diskutieren: Einige von ihnen wollten nicht, dass man ihr den Bauch aufschlitzte. Stattdessen einigten sie sich darauf, ihr den Arm mit einer Machete abzuhacken. Erst die Finger, dann die Hand. Der Unterarm. Und schließlich auch die Hälfte des Oberarms, weil, so sagt sie, sich ein Mann der Gruppe beschwert habe, noch nicht dran gewesen zu sein. Sie erzählt all das ganz schnell, ohne Zorn, geistesabwesend und ausdrucklos. So, als habe sie mit ihrem Arm auch ihre Mimik verloren. Ihr Übersetzer, ein Oberhaupt des Dorfes, gerät ins Stocken, seine Stimme versagt. Als sie schweigt, stehen stille Tränen in seinen Augen.

Ich fahre weiter Richtung Norden, ins Gebiet von Kagoro. Dort spreche ich mit Lyndia David, die ein anderes Massaker überlebt hat. Sie erzählt, dass sie an jenem Tag im März Gerüchte gehört habe, dass bewaffnete Männer der Fulani in der Umgebung auf Raubzug seien. Als sie gerade dabei war, sich für die Kirche hübsch zu machen, kam ihr Mann von seinem Wachposten aus den Bergen zurück. Er bat sie, schnell bei ihrer Schwester im Nachbardorf Zuflucht zu suchen. Nachts wurde sie dort von den Pfiffen der Späher geweckt. Sie lief nach draußen und sah, dass alle Menschen um sie herum panisch wegrannten. Die Angreifer waren überall, das Dorf schien umzingelt. Dann hörte sie jemanden in ihrer Sprache rufen: "Komm hier rüber, der Weg ist frei." Sie lief ihrem vermeintlichen Retter entgegen. Der sprang auf sie zu, überwältigte sie, hackte ihr drei Finger der rechten Hand ab, schlitzte ihren Nacken mit der Machete auf. Als er sie für tot hielt, übergoss er sie mit Benzin und zündete sie an. Sie hat schwer verletzt überlebt – wie durch ein Wunder.

Ihr Heimatdorf wurde in jener Nacht ebenfalls überfallen. Zweiundsiebzig Dorfbewohner starben. Auch ihr Mann.

Der 9-jährige Samson wird im Krankenhaus von Jos behandelt. Als die bewaffneten Männer sein Heimatdorf Rakok angeriffen, wurde er verwundet
Der 9-jährige Samson wird im Krankenhaus von Jos behandelt. Als die bewaffneten Männer sein Heimatdorf Rakok angeriffen, wurde er verwundet
© Gilles Hertzog

Kurz vor Jos, der Hauptstadt des Bundestaates Plateau, dessen grüne Landschaft einst die Herzen der britischen Kolonialherren entzückte und der lange als Zentrum des christlichen Lebens galt, sehe ich eine zerstörte Kirche. Aus den Resten des eingestürzten Dachs ragt ein verschmortes Kreuz hervor.

Die Kirche, die ich am Ortsausgang erblicke, ist noch intakt. Im Hof stehen viele junge Mädchen in weißen Kleidern und Schleiern, mitten in der Hitze. Ein Mann kommt heraus und schreit mich an, ich hätte hier nichts zu suchen. Er spricht Englisch. Ein paar Informationen kann ich ihm dennoch entlocken: Er sei Türke, erzählt er, und gehöre zu einem von Katar finanziertem Netzwerk für "gegenseitigen religiösen Beistand". Seine Aufgabe sei es, im Norden und im Zentrum des Landes Koranschulen für die Töchter der Fulani zu eröffnen.

Unter dem Schutz einer Polizeieskorte aus dem benachbarten Distrikt sehe ich mich an diesem Tag weiter im Gebiet des "mittleren Gürtels" um. In einem Radius von dreißig Kilometern erblicke ich zusammengesackte Straßenpisten, gesprengte Brücken, zerstörte Häuser. Dass hier vor kurzem noch Menschen gelebt haben, sieht man an den verbrannten Strohbetten, an den Eimern und Küchenutensilien, die vereinzelt noch herumliegen – und an den Schleifspuren aus schwarzer Asche oder Blut. Bäume stehen hier kaum noch. Auch der Mais verfault, weil es in diesem eigentlich von Bauern bewirtschafteten Gebiet kaum noch Menschen gibt, um die Felder abzuernten. Die wenigen, die überlebt haben, sind traumatisiert. Sie können nicht mehr arbeiten.

Am Horizont kann man eine Vielzahl weißer Flecken erkennen: Es sind die Tiere, denen die Menschen weichen mussten. Als wir uns den Herden nähern, werden wir von bewaffneten Hirten verscheucht.

Verscharrt in roter Erde: Bei dem Überfall auf das Dorf Nghar im Bundestaat Plateau wurden 86 Menschen getötet
Verscharrt in roter Erde: Bei dem Überfall auf das Dorf Nghar im Bundestaat Plateau wurden 86 Menschen getötet
© Gilles Hertzog

Überlebende sollen die Botschaft verbreiten

In Jos, der Hauptstadt des Bundestaats Plateau, erzählt uns der Bischof, dass sein Vieh bereits drei Mal gestohlen worden sei. Beim dritten Überfall habe man ihn in sein Zimmer geschleift und eine Waffe auf ihn gerichtet. Seine Rettung verdanke er seinem Glauben: Er habe sich auf die Knie geworfen und sehr laut gebetet. Das Geräusch eines sich nähernden Hubschraubers habe die Angreifer vertrieben.

Er erklärt mir, wie die Überfälle ablaufen. Die Männer kommen meistens nachts. Sie sind barfuß; wenn sie nicht auf Motorrädern heranfahren, hört man sie nicht kommen. Manchmal schlägt ein Hund Alarm. Manchmal ein Späher. Meist aber ist es bereits zu spät. Dann hört man nur die wilden Schreie, als ob sie sich gegenseitig aufputschen wollen, und sieht den Staubwirbel unter ihren Füßen. Bevor man sich verbarrikadieren oder flüchten kann, sind sie schon in den Häusern, schlagen mit ihren Macheten, verfolgen die Flüchtenden, suchen nach schwangeren Frauen, verbrennen, plündern, vergewaltigen. Sie töten nicht zwangsläufig jeden, sagt der Mann. Irgendwann halten sie inne. Sie treiben das verschreckte Vieh zusammen und verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind. Die Toten lassen sie liegen. Die Überlebenden sind nützlich für sie, so der Mann, weil es Zeugen geben muss. Sie sollen berichten und die Botschaft in den Dörfern verbreiten: Die bewaffneten Kämpfer der Fulani sind zu allem bereit. Sie fürchten nur Gott.

In Abuja, der Hauptstadt Nigerias, bin ich zu einem Treffen eingeladen worden. Die Abgesandten von siebzehn christlichen Glaubensgemeinschaften haben sich zu einer unauffälligen Zusammenkunft am Stadtrand verabredet. Einige von ihnen waren mehrere Tage in Sammeltaxen oder überfüllten Bussen unterwegs. Andere verspäten sich, weil sie erst an den Check-Points vorbeikommen mussten – wegen terroristischer Anschläge herrscht in Teilen des Landes der Ausnahmezustand. Sie konnten nur nachts fahren und mussten sich in dieser für sie unbekannten Stadt unauffällig verhalten. Aber schließlich sind alle beisammen, erschöpft und aufgebracht. Jeder von ihnen hat Opfer zu beklagen. Es ist eine Versammlung von etwa vierzig Frauen und Männern. Einer hat einen USB-Stick dabei, eine andere einen schriftlichen Bericht; ein Dritter beschriftete und datierte Fotos.

Der französische Philosoph und Publizist Bernard-Henri Lévy
© stern

Bernard-Henri Lévy

Der französische Publizist, Philosoph und Filmemacher wurde am 5. November 1948 in Algerien geboren. Von Marokko aus zog die jüdische Familie 1954 nach Paris, wo Bernard-Henri Lévy in besten Kreisen aufwuchs. Später studierte er dort, verfasste Bücher und Essays. Seit früher Jugend zieht es ihn an die Fronten und in die Krisengebiete der Welt. Als Philosoph sucht er den Erkenntnisgewinn im Geschehen; als Publizist kommentiert er geopolitische Konflikte, polemisiert gegen Kulturrelativismus und plädiert für die Einhaltung der Menschenrechte weltweit. Seine medienwirksamen Auftritte machten ihn über Frankreich hinaus berühmt

Ich nehme die Dokumente an mich und gehe sie durch. Für den Moment kann ich nur sagen, dass diese Überlebenden, einer nach dem anderen, das von dem Bischof beschriebene Vorgehen und die Überfälle bestätigen. Mit leeren Blicken fügen die Anwesenden, die mehr tot als lebendig erscheinen, ihre grauenvollen Details hinzu. Verschandelte Leichen ermordeter Frauen. Ein Stummer, der aufgefordert wurde, seinem Glauben abzuschwören und den man dann mit der Machete zerhackte, damit man ihm wenigstens einen Schrei entlockt. Das kleine Mädchen, das mit seiner Halskette stranguliert wurde, an der ein Kreuz hing. Ein anderes, dessen Kopf an einem Baum zerschmettert wurde.

Bei jeder Aussage und jedem Foto frage ich mich, wo das Böse seinen Ursprung findet. Wie ist die Brutalität über diese Hirten gekommen, die doch wie ihre Brüder und Schwestern auch nur Verdammte auf dieser Erde sind? Liegt es an den Aufrufen der radikalisierten Islamisten, die sich im gleichen Maße vermehren, wie die Kirchen brennen? Oder handelt es sich schlicht um die unterschwellige Rohheit, die irgendwann aufbricht, wenn man sich gegenseitig jahrelang hasst und verflucht und zulässt, dass sich die Spirale der Gewalt immer schneller dreht?

Ich befürchte, dass hinter den Toten, die wir sehen, etwas Größeres brodelt. Es ist eine Erweiterung des Prinzips Boko Haram, das in diesen Verbrechen seinen Ausdruck findet. Das wächst und seine Wurzeln immer feiner verästelt. Eine Saat des Bösen, die sich ausbreitet und auch fernab der Hauptquartiere gedeiht, in denen sich die Anführer der Dschihadisten tatsächlich verschanzt halten. Ihre Grausamkeit kennt keine Grenzen. Die Dschihadisten suchen sich immer neue Verbreitungswege und Verbündete, um von Nigeria aus auch im Tschad, Niger oder in Kamerun Menschen zu unterwerfen.

Bernard-Henri Lévy und sein Begleiter vor einem Grab in Tanjol, Nigeria
Bernard-Henri Lévy und sein Begleiter vor einem Grab in Tanjol, Nigeria
© Gilles Hertzog

Doch es scheint offensichtlich auch ganz konkrete Verbindungen zu geben. Ein Amerikaner von einer NGO berichtet mir sogar von Ausbildungen in "Bush-Camps" für Fulani-Freiwillige im Bundestaat Borno. Ein anderer sagt mir, dass Boko-Haram-Mitglieder in das Gebiet des Bundestaates Bauchi geschickt worden seien, um geeigneten Männern die Handhabe von Kriegswaffen beizubringen, damit sie die Zeit der Macheten hinter sich lassen können.

In den Dörfern westlich von Jos, auf der Straße nach Kafanchan, lasse ich mir von den Einwohnern mehrfach die zur Verteidigung verfügbaren Waffen zeigen: Bogen und Steinschleudern, Dolche, Stöcke, Lederpeitschen, Steine, Lanzen. Doch sogar diese Behelfswaffen müssen versteckt werden. Wenn nach einem Überfall die Armee eintrifft, kann es passieren, dass die Waffen konfisziert werden.

Häufig höre ich, dass Militärposten in der Nähe gewesen seien, die die Bürger eigentlich vor den Buschmilizen beschützen sollten. Aber das Militär sei oft entweder gar nicht gekommen, heißt es, oder zu spät; oder man habe nach einem Raubzug behauptet, die über SMS gesendeten Hilferufe nicht erhalten zu haben.

Die Menschen in Kriegs- und Krisenregionen sind dringend auf Hilfe angewiesen. Wir leiten Ihre Spende an ausgewählte Hilfsorganisationen weiter. Bitte spenden Sie an IBAN DE90 2007 0000 0469 9500 01, Stichwort: #weileswichtig ist – www.stiftungstern.de

"Wen wundert es?”, fragt Dalyop Salomon Mwantiri, einer der wenigen Anwälte in der Region, der die Seite der Opfer vertritt. Seiner Meinung nach liege es daran, dass es in der Verwaltung und im Führungsstab der örtlichen Armee viele Angehörige der Fulani gebe, die die Taten ihrer Landsleute deckten. Diese Komplizenschaft habe sich jüngst im Distrikt Riyom bestätigt: Vier Vertreibene, die auf ihre Ländereien zurückkehren wollten, wurden mit Maschinengewehren erschossen. Die Dorfbewohner kannten die Täter. Auch die lokale Polizei habe sie identifiziert. Jeder wisse, dass sie nach dem Angriff im zwei Kilometer entfernten Nachbardorf Fass untergeschlüpft seien. Aber dort stünden sie unter dem Schutz des Ardo – eine Art Emir der Fulani. Und so habe es keine Festnahmen gegeben.

Sunday Abdu, Oberhaupt der Bevölkerungsgruppe der Irigwe im Distrikt Bassa, berichtet von einem ähnlichen Vorgehen. Vor einem Angriff auf das Dorf Nkiedonwhro sei das Militär gekommen und habe die Bewohner gewarnt. Frauen und Kindern sollten sich in der Schule versammeln. Nachdem das geschehen sei, habe ein Soldat in die Luft geschossen, als ob er ein Signal geben wollte. Aus der Ferne sei zurückgeschossen worden. Ein paar Minuten später, nachdem die Truppe das Dorf verlassen habe, um Jagd auf die sich nähernden Angreifer zu machen, seien plötzlich Milizionäre aufgetaucht und hätten blindlings in die Klassenzimmer geschossen.

Begegnungen mit Islamisten

Nach dieser Begegnung fahre ich nach Kwi, etwas weiter Richtung Süden, um einer Trauerfeier für drei getötete Jugendliche beizuwohnen. Mit Stöcken hatten sie einen Angriff abgewehrt. Die Polizei, die wie so oft zu spät kam, hatte mitnichten die Verfolgung der Angreifer aufgenommen, sondern die drei Jugendlichen und vierzehn ihrer Nachbarn verhaftet – wegen "innergemeinschaftlicher Gewalt". Die vierzehn Nachbarn durften recht schnell wieder gehen, sagen aber, dass sie auf der Polizeiwache massiv gefoltert wurden. Die Jugendlichen wurden von den anderen getrennt und getötet.

Meine erste Begegnung mit militanten Fulani ergibt sich durch Zufall. Ich war allein mit meinem Freund, dem Schriftsteller Gilles Hertzog, und einem Dolmetscher in einem Toyota unterwegs nach Godogodo. An einer zerstörten Brücke müssen wir einen Fluss überqueren. Am anderen Ufer kommen wir an einen Check-Point. Er besteht aus einem gespannten Seil und einer Strohhütte, in der zwei bewaffneten Männer dösen. "Hier kommt Ihr nicht durch", sagt der jüngere der Männer, der ein Hemd mit arabischen und türkischen Abzeichen trägt. "Ihr seid hier bei den Fulani, auf dem heiligen Boden unseres Königs Usman dan Fodio. Weiße dürfen hier nicht rein." Ich dachte, das Gedenken an diesen militärischen und religiösen Führer, dessen Eroberungsfeldzüge vor zweihundert Jahren das Kalifat von Sokoto begründet hatten, würde vornehmlich in den Nordstaaten Nigerias gepflegt. Aber anscheinend nicht. Wir befinden uns Hunderte Kilometer weiter südlich. Die Idee eines islamistischen Staats, gegründet auf den Leichen von Animisten, Christen und Muslimen, die sich der Radikalisierung widersetzen, findet auch hier ihre Anhänger.

In einem Dorf in der Nähe der Hauptstadt Abuja erzählt ein Jugendlicher, warum er mit den Islamisten sympathisiert
In einem Dorf in der Nähe der Hauptstadt Abuja erzählt ein Jugendlicher, warum er mit den Islamisten sympathisiert
© Gilles Hertzog

Die zweite merkwürdige Begegnung habe ich vor den Toren Abujas. Wir fahren übers Land und kommen in ein Dorf, in dem sich Fulani niedergelassen haben. Was aus den vorherigen Bewohnern geworden ist, scheint sie nicht zu kümmern. "Was machen Sie hier?", fragt uns ein Jugendlicher. Er trägt ein T-Shirt mit einem Hakenkreuz. "Wollt Ihr die Gelegenheit ausnutzen, dass heute Freitag ist und unsere Frauen ausspionieren? Der Koran verbietet das!" Als ich ihn darauf aufmerksam mache, dass sein Hakenkreuz auf der Brust ebenfalls nicht den Lehren des Koran entspricht, wirkt er kurz verlegen. Doch dann beteuert er in gehetzten Worten, sich vollkommen darüber bewusst zu sein, dass es sich um ein "deutsches Abzeichen" handele und dass "alle Männer Brüder seien" – mit Ausnahme der "bösen Seelen", die "die Muslime hassen".

Zu einer weiteren Begegnung kommt es in Lagos, also im äußersten Süden des Landes. Dort gibt es einen Markt unter freiem Himmel, den man nach einem stundenlangen Fußmarsch erreicht – wegen der verstopften Straßen würde man mit dem Auto genauso lange brauchen. Auf dem Markt bieten einige Hirten ihre Tiere zum Verkauf an. An jenem Tag begleiten mich drei junge anglikanische Christen, die im "Middle Belt" ein Massaker überlebt haben und umgesiedelt worden sind. Sie behaupten, dass sie ein Tier für eine Familienfeier kaufen wollen. Während sie den Preis für ein Zebu mit weißen Hörnern von 1600 auf 1200 Dollar runterhandeln, mache ich mich auf die Suche nach gesprächigen Fulani-Männern. Die meisten von ihnen kommen aus dem Bundesstaat Jigawa, an der Grenze zum Niger. Sie haben das Land von Nord nach Süd mit dem LKW durchquert. Ich erfahre nicht viel über ihre Reise, höre aber, wie froh sie sind, hier zu sein, am Rand der Stadt, um endlich ihren "Koran ins Meer einzutauchen". Es gebe zu vielen Christen in Lagos, empört sich Abdallah, der gesprächigste von ihnen. "Die Christen sind Hunde. Sie nennen sich Christen, aber für uns sind sie Verräter. Sie haben die Religion des weißen Mannes übernommen. Es gibt hier keinen Platz für Freunde der Weißen, diese Unreinen." Die Hirten um ihn herum nicken zustimmend. Sie scheinen überzeugt. Genauso wie der Postkarten-Verkäufer, der sich der Gruppe angeschlossen hat, um mir Portraits von Erdogan und Bin Laden anzubieten. "Die Christen werden irgendwann das Land verlassen und dann wird Nigeria, so Gott will, wieder frei."

Auf dem Markt von Lagos, Nigeria, bieten Hirten ihre Zebus zum Verkauf an. Die Ursachen für die Massaker im Landesinneren Nigerias sind vielfältig; doch für diesen Mann ist die Sache klar: Die Christen sollen aus Nigeria verschwinden
Auf dem Markt von Lagos, Nigeria, bieten Hirten ihre Zebus zum Verkauf an. Die Ursachen für die Massaker im Landesinneren Nigerias sind vielfältig; doch für diesen Mann ist die Sache klar: Die Christen sollen aus Nigeria verschwinden
© Gilles Hertzog

Man kann die Ursachen für diese Eruptionen der Gewalt immer in uralten, interethnischen Konflikten suchen. In Fehden zwischen den vielen Religionen und Gruppen, die in diesem Land leben. Im Streit um knapper werdende Ressourcen in einem Land, dessen Bevölkerung schnell wächst. Und ja, ich denke auch, dass es zu schlimmen Verbrechen an den Fulani oder den Haussa gekommen ist, die darauf ihrerseits gewaltsam reagieren. Es gibt viele Gründe.

Doch am Ende dieser Reise bleibt die schreckliche Erinnerung an das Jahr 2007, als in den Dörfern von Darfur der Tod gesät wurde. Oder an die Zeit davor, als sich im Südsudan der Krieg der Islamisten gegen die Christen anbahnte. Oder man denkt noch weiter zurück, an jenen Frühling 1994 in Ruanda, als niemand glauben wollte, dass der vierte Genozid des zwanzigsten Jahrhunderts bereits begonnen hatte.

Wie können wir sicher sein, dass sich die Geschichte in Nigeria nicht wiederholt? Werden wir es erneut riskieren, abzuwarten, bis die Katastrophe vollendet ist, ehe wir genauer hinsehen? Werden wir mit verschränkten Armen zusehen, wie die islamistische Internationale hier ihre Fronten verbreitert, in diesem riesigen Gebiet, in dem lange Zeit Christen und Muslime friedlich miteinander existieren konnten?

Das sind die Fragen, die sich nach dieser Reise in die nigerianische Finsternis stellen.

Nachtrag der Redaktion, Dezember 2020. Am 28. November 2020 wurden im Norden Nigerias nach UN-Angaben mindestens 110 Menschen auf brutalste Weise getötet, viele andere verletzt; lokalen Zivilschützern zufolge durch Boko Haram. Im Oktober wurden 22 Bauern, die auf ihren Feldern arbeiteten, die Kehlen durchgeschnitten. Seit der Radikalisierung Boko Harams im Jahr 2009 wurden über 36000 Menschen ermordet, mehr als zwei Millionen Anwohner mussten aus dem Nordosten Nigerias fliehen. Die Beteiligung von Kämpfern u. a. aus den Reihen der Bevölkerungsgruppe der Fulani in einer Vielzahl terroristischer Gruppen ist ein zentrales Problem in Teilen Westafrikas, wo Landesgrenzen nur wenig bedeuten. Die Gewalt der Islamisten richtet sich gegen sämtliche Bevölkerungsgruppen und Religionen. Die Angriffe von Boko Haram und von rivalisierenden Gruppen wie etwa der Miliz "Islamischer Staat in Westafrika" (ISWAP) treffen vermehrt Menschen, die in Gebieten mit schwacher staatlicher Infrastruktur leben. Terroristische Gruppen nutzen bestehende interethnische Konflikte sowie die Abwesenheit verlässlicher staatlicher Instanzen aus und präsentieren sich als Schutzmacht vor der Gewalt.

aus dem Französischen übersetzt und bearbeit von Claire Freerks und Andrea Ritter

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