Wenn in Deutschland die Lokführer streiken, interessiert das die Nation nur sehr peripher, sprich: hauptsächlich die Bahnnutzer. In Frankreich gibt es dagegen schon seit Tagen nur noch ein Thema: Was wird der Streik, der am Dienstagabend begann, politisch bringen. Und da steht einiges auf dem Spiel. Streiken ist in Frankreich die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Es geht um weit mehr als die konkreten Streikforderungen, die im Übrigen auch recht diffus sind.
In Frankreich, das ist seit über 200 Jahren ehrwürdige Tradition, wird Politik auch auf der Straße gemacht. Bisher waren die Franzosen darauf auch stolz. Streiks werden fast grundsätzlich gut geheißen, auch wenn das bedeutet, stundenlang zu Fuß zur Arbeit unterwegs zu sein oder Urlaub nehmen zu müssen, weil auch die Schulen streiken und man seine Kinder selbst betreuen muss. Dass dieses Mal 55 Prozent der Franzosen die Forderungen der Streikenden nicht unterstützen, ist eine Premiere.
Der Machtkampf könnte lange dauern
Die Frage, ob Sarkozy Frankreichs Maggie Thatcher werden und die Macht der Gewerkschaften brechen wird, ist denn auch eine häufig gestellte Frage. Frankreich steht vor einem möglicherweise langen Machtkampf. Das oben zitierte Umfrage-Ergebnis dürfte Sarkozy allerdings wenig beruhigt haben. Er kennt sein Volk und weiß, dass es so rational nicht funktioniert. Die Rentenprivilegien einer kleinen Gruppe von Beamten sind für viele Franzosen nur der Aufhänger, um mal wieder Dampf abzulassen und eine Unzufriedenheit zu artikulieren, die sechs Monate nach der Wahl des Präsidenten wächst.
Auch wenn die Privilegien der Bahnbeamten nicht sehr populär sind: Die Franzosen haben andererseits Angst vor den weiter reichenden Reformen, die Sarkozy auch angekündigt hat - vor allem beim Arbeitsrecht, das bisher das arbeitnehmerfreundlichste Europas sein dürfte. Auch herrscht großer Unmut über ein ganz konkretes Problem: Kaufkraftverlust. Rasant steigende Immobilienpreise und Mieten setzen den Franzosen zu, das symbolträchtige Baguette ist innerhalb eins Jahres um zwölf Prozent teurer geworden. Sarkozy hat zwar vollmundige Versprechungen gemacht, Verbesserungen sind aber noch keine in Sicht.
Die Gewerkschaften funktionieren als Sprachrohr
Diese Unzufriedenheit könnte den Streikenden Rückenwind bringen. Weil die politischen Parteien wenig Mitglieder haben, sind es in heißen Zeiten die Gewerkschaften, die als Sprachrohre politischer Unzufriedenheit fungieren. Das ist umso einfacher als jeder Berufszweig bis zu einem halben Dutzend Gewerkschaften hat, politisch mehr oder weniger konservativ, gemäßigt oder linksradikal geprägt. Entsprechend vertreten sie unterschiedliche Standpunkte, so dass sich jeder irgendwo wiederfinden kann.
Die französischen Gewerkschaften sind im Gegensatz zu den deutschen nicht einheitlich organisiert bezüglich einer klaren Funktion: Verhandlungspartner zu sein, wenn es um Lohn und um Arbeitsrecht geht - was alles etwas schwieriger macht. Die Verhandlungskultur ist in Frankreich wenig entwickelt und zuerst einmal wird ordentlich auf den Putz gehauen und im Konflikt getestet, wie stark der Gegner ist.
Die Gewerkschaften dürfen den Machtkampf nicht verlieren
Dass das für die Gewerkschaften nach hinten losgehen kann, sieht die linke Tageszeitung "Libération", der angesichts des Streiks für unpopuläre Privilegien nicht wohl ist und sich wünscht, "dass es zu einem Fortschritt in den sozialen Beziehungen in Frankreich kommen möge." Die Gewerkschaften sollen also auch nach Wunsch der Linken ihre Rolle neu definieren, um bei den anstehenden Reformen mitreden zu können. Wenn sie den Machtkampf verlieren, da sind sich konservative wie linke Franzosen einig, sind sie vorerst erledigt. "Diese Reform durchziehen bedeutet, weiteren Reformen den Weg zu ebnen", schreibt der Figaro heute. In den kommenden Tagen und Wochen wird sich entscheiden, ob Sarkozy seine Politik mit derselben Energie wird weiter verfolgen können. "Sarkozy hat aus dieser Reform (der Beamtenrenten) ein Symbol gemacht", stellt das linksliberale Magazin "Nouvel Observateur" fest. Vielleicht eines, an dem die Gewerkschaften sich die Zähne ausbeißen sollen, damit "die Straße" - wie die anarchische Öffentlichkeit in Form von Streiks in Frankreich gerne genannt wird - bei den wirklich brisanten Themen Ruhe gibt.