Haben Sie das auch gesehen? Vergangene Woche stand Boris Pistorius in einem Fahrstuhl des Reichstagsgebäudes, bereit zur Abfahrt aus jenem Stockwerk, wo die Fraktionen tagen. Kurz vor Schließung der Aufzugtür blaffte er noch schnell seine Botschaft in eine Fernsehkamera: "Das war nicht meine Idee!" Der Verteidigungsminister meinte das Losverfahren, das die Union für eine künftige Wehrpflicht vorgeschlagen hatte.
Über die Wehrdienstlotterie ist alles gesagt. Lassen Sie uns über den Fahrstuhl reden, in dem Pistorius entschwand. Die Türen sind aus Glas, die Seitenwände mit Spiegeln versehen. Steht man allein in diesem Aufzug, sieht man sich selbst in einer unendlichen Kolonne wie die Soldaten der berühmten Terrakotta-Armee.
Im parlamentarischen Alltag treffen sich in diesem Fahrstuhl Politiker und Journalisten. Das kommt an vielen Orten vor, aber hier kann es passieren, dass man für einige Sekunden ohne Ausweichmöglichkeit zusammengepfercht steht. Vor 24 Jahren wurde ich dabei Zeuge einer Szene, in der es auch schon in gewisser Weise um die Wehrpflicht ging. Im August 2001 sollte das Parlament über einen Bundeswehreinsatz in Mazedonien abstimmen. Nicht zuletzt die mit Gerhard Schröders SPD regierenden Grünen, bei denen es damals noch Pazifisten gab, hatten darüber harte Diskussionen geführt. Außenminister Joschka Fischer musste mühsam um Zustimmung werben, Wortführer der Gegner war Hans-Christian Ströbele. Beide trafen sich auf dem Weg zur Abstimmung zufällig – im Fahrstuhl.
Vorgänger von Pistorius beim Pöbeln erwischt
"Ist das der Aufzug der Dissidenten?", fragte Ströbele. Fischer antwortete: "Oh nein, hier fährt die Bundesregierung." Und mit dem ihm eigenen Sarkasmus fügte er hinzu: "Das ist der Fahrstuhl in den Krieg." Ströbele konterte, darauf sei er besser vorbereitet als der Minister: "Anders als du, Joschka, habe ich nämlich gedient." Tatsächlich hatte der Mitbegründer von Grünen und "taz" einst als Kanonier bei der Luftwaffe in Aurich seiner Wehrpflicht Genüge getan, Fischer indes nur eine Art paramilitärische Schnellausbildung auf dem Frankfurter Straßenpflaster vorzuweisen.
Boris Pistorius sprach in eine Fernsehkamera. Ströbele und Fischer wussten, dass sich Journalisten im Fahrstuhl befanden, die die Szene beschreiben würden. Die Frage, auf die ich hinauswill, lautet: Ist der Fahrstuhl ein öffentlicher Ort, auch bei geschlossenen Türen? Das war nämlich nicht so klar, als zu Zeiten einer der großen Koalitionen von Angela Merkel ein ebenso wichtiger wie wütender Politiker der einen Koalitionsfraktion den Aufzug betrat, über einen genauso wichtigen Kollegen der anderen Koalitionsfraktion maulte und ihn unter beifälligem Nicken seiner Entourage mit einem Schimpfwort bedachte, das ich in einer Familienzeitschrift wie dem stern nicht zitieren möchte. Kleiner Tipp: Man nennt jemanden auch so, der auf ebenem Grund Schuhe putzt.
Wenn diese Episode in der Zeitung gestanden hätte, wäre der Ärger gewaltig gewesen. Ich entschied mich nach einiger Überlegung, nicht darüber zu schreiben, weil der Politiker mich offenkundig nicht gesehen hatte, sondern sich ganz im Kreise gleichgesinnter Kollegen und in einem geschützten Raum wähnte. Das war wahrscheinlich ein Fehler von mir. Aber damals war ich noch jung und fair.
Übrigens hat auch diese Episode ganz entfernt etwas mit der Wehrpflicht zu tun: Der schimpfende Politiker war ebenfalls einmal Verteidigungsminister.