Nein, mit diesem Erfolg habe er nicht gerechnet. In der Berliner Apotheke, in der er arbeitet, checkt der junge Pharmazeut Cedrik Schamberger vor wenigen Wochen erst einmal sein Handy, als es Zeit für die Pause ist. Er stutzt – zahlreiche Glückwünsche von grünen Parteifreunden sind eingetrudelt. Gratulationen wozu?
Der 25-Jährige, der den Berliner Grünen in Tempelhof-Schöneberg vorsitzt, hat für den Parteitag einen Antrag eingereicht: Die Grünen sollen sich dafür aussprechen, dass homöopathische Leistungen nicht mehr von den Krankenkassen erstattet werden. Der Antrag hat genügend Stimmen gesammelt, dass sich die Partei damit beschäftigen wird.
Globuli und Co. – für die Grünen ist das ein heikles Thema, zu dem sich in der Vergangenheit immer wieder bitterböse gestritten wurde. Gerade in grünen Milieus ist die Skepsis gegenüber der Schulmedizin traditionell ausgeprägt. Nun erfährt der Streit auf dem Parteitag in Hannover, zu dem die Partei an diesem Wochenende zusammenkommt, eine Neuauflage. Es ist die erste Zusammenkunft dieser Größe, seit die Grünen bei der Bundestagswahl Anfang des Jahres in der Opposition gelandet sind.
Grüne in der Findungsphase: Flüchten sie in Nischenthemen?
Nach dem Rückzug von Robert Habeck und Annalena Baerbock ist die Partei noch auf der Suche nach Orientierung. Die aktuelle Viererspitze, bestehend aus den beiden Parteivorsitzenden Franziska Brantner und Felix Banaszak und den beiden Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann und Katharina Dröge, übt sich zwar in konstruktiver Oppositionsarbeit, hat es bisher aber nur in wenigen Fällen vermocht, Akzente zu setzen. Entsprechend mehren sich die kritischen Stimmen in den eigenen Reihen. Man müsse mal durchdringen, heißt es immer wieder, aber man sei sich ja bei so vielem selbst nicht einig. Wofür wollen die Grünen stehen?
Am Wochenende nun können sie dank Schamberger erst mal ihre Position zur Homöopathie schärfen. Dass der Antrag überhaupt diskutiert werden muss, hat bei vielen Spitzen-Grünen für Augenrollen gesorgt. Schließlich waren die Schlagzeilen schnell in der Welt: "Grüne diskutieren über Homöopathie statt über Wehrpflicht". Schießen sich die Grünen in der Opposition gleich ganz ins Abseits, indem sie sich in Nischenthemen flüchten?
Die Partei nimmt ihre Basis wichtig, jedes Mitglied kann vor einem Parteitag einen Antrag einreichen. Die sechs, die in einem Mitgliederranking die meisten Stimmen erhalten, kommen zur Abstimmung. Nun erhielt keiner der gestellten Anträge zu einem Wehrdienst oder einem Gesellschaftsjahr einzeln betrachtet ausreichend Stimmen, Schambergers Antrag aber landete auf Platz zwei. "Ich war total überrascht und habe mich gefreut, es ist für mich einfach ein sehr wichtiges Thema", sagt Schamberger dem stern am Telefon.
Am Ende haben die Parteivorsitzenden Brantner und Banaszak einen Weg gefunden, wie der Wehrdienst trotzdem diskutiert werden kann, nämlich als Teil einer größeren Debatte zur Außenpolitik. Dort werden sich die Grünen auch über ihre Position zu Israel und Palästina streiten. Auch das Thema Steuergerechtigkeit, etwa durch Erbschafts- und Vermögenssteuern, wird die Grünen dort beschäftigen, ebenso die Klimapolitik.
Die Kritik kann Schamberger deshalb nicht nachvollziehen. "Natürlich gibt es wichtigere Themen, wir werden ja auch zu Wehrpflicht und Rente und Nahost diskutieren", sagt er. "Wir stehlen da niemandem die Show."
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Trotzdem ist der Erfolg seines Antrags für viele Grüne in Funktionen auf Bundesebene ein Reminder, dass sich an den Verfahren etwas ändern müsse. An dem Anträge-Ranking haben sich von den aktuell fast 185.000 Parteimitgliedern nur wenige Tausend beteiligt. Immer wieder können so auch eher abseitige Themen nach oben schießen. Derzeit läuft dazu eine Satzungskommission.
Schamberger: "Da können wir nicht an der Stelle völlig faktenfrei agieren"
Für den aktuellen Parteitag hilft das nichts, da muss die Partei nun durch. Was treibt den Pharmazeuten Schamberger, Taylor-Swift-Fan, Veganer, Tennisspieler, an? "Ich will eine klare Position der Partei pro Wissenschaft erreichen, wie wir sie in allen anderen Bereichen auch vertreten, etwa beim Klimaschutz", sagt er. "Es ist nicht plausibel, warum das im Gesundheitsbereich nicht auch so sein sollte." Natürlich gebe es Leute, die auf Homöopathie schwören. "Aber an anderer Stelle muten wir Leuten auch was zu, da können wir nicht an der Stelle völlig faktenfrei agieren."
Schamberger, seit 2018 bei den Grünen, findet: "Die Solidargemeinschaft, das heißt alle gesetzlich Krankenversicherten, sollen nicht solche Verfahren mitbezahlen müssen, die über den Placebo-Effekt hinaus keinen Nachweis haben." Es gehe ihm nicht darum, Homöopathie zu verbieten, sondern darum, dass die 22 Millionen Euro pro Jahr nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt werden.
Grüne haben mit Habecks Kompromiss schon weiten Weg zurückgelegt
Klingt eigentlich nach einer vernünftigen Position, zumindest wenn man der Wissenschaft folgt. Aber der Bundesvorstand wird ein Gegenmodell zur Abstimmung stellen: einen Kompromiss, auf den sich die Partei 2020 einigte. Diesen hatte der damalige Parteichef Habeck erarbeitet, als das Thema den Grünen gerade mal wieder um die Ohren flog. Eine Kommission zu dem Thema war zuvor gescheitert, der Bundesvorstand beklagte damals "einen aggressiven und teilweise polemischen Ton" in der Frage.
Der Habeck-Kompromiss sieht vor, dass Kassen Homöopathie bezahlen können – aber nur denjenigen Versicherten, die einen entsprechenden Sondertarif gebucht haben. Damit hat die Partei schon einen weiten Weg zurückgelegt, im Wahlprogramm 2009 forderte sie noch einen "gleichberechtigten Stellenwert" für Naturheilmedizin und komplementärmedizinische Angebote.
Trotzdem ist Schamberger mit dem Habeck-Kompromiss nicht zufrieden. "Das kann uns als grüne Position nicht ausreichen. Denn damit unterstützen wir etwa weiter Forschung zu Homöopathie." Dass dieses Übereinkommen nicht gut genug ist, sei ihm auch in der vergangenen Legislatur klar geworden. Damals hat SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach versucht, Homöopathie als Kassenleistung zu streichen, unter anderem Habeck hat blockiert.
Wird Schambergers Antrag nun die alten Konflikte wieder aufreißen? In der Bundesgeschäftsstelle der Grünen jedenfalls liefen in den Tagen vor dem Parteitag die Telefone heiß, Grünen-Mitglieder und solche, die ihnen nahestehen, beschäftigt die Homöopathie-Frage. Böse Zungen unterstellen Schamberger jetzt, dass er den Antrag nur deshalb einbringe, weil er ein paar Tage später ein Direktmandat für die Berlin-Wahl gewinnen will, bei der Aufstellungsversammlung muss er sich gegen einen Gegenkandidaten durchsetzen. Schamberger hält das für absurd.
Ein Stinkbömbchen Richtung Baden-Württemberg könnte eine durch Schamberger ausgelöste Homöopathie-Debatte aber werden. Im Land der Antroposophen und Naturheilkundler will Cem Özdemir im März Ministerpräsident werden. Ironie der Geschichte: Auch Schamberger ist Baden-Württemberger, aufgewachsen in einem kleinen Dorf zwischen Lörrach und Freiburg. Und damit gar nicht weit entfernt von der Heimat der Parteivorsitzenden Brantner.
Wer wird sich auf dem Parteitag durchsetzen? Der Grünen-Vorstand geht davon aus, dass die Partei schon schlau genug sein werde, beim gefundenen Kompromiss zu bleiben. Doch auch Schamberger ist positiv gestimmt. Sein Antrag treffe einen Nerv, ist er sich sicher. "Bei der Abstimmung wird es natürlich von der Stimmung vor Ort abhängen", sagt er. "Aber ich denke, wir haben die besseren Argumente."