Ragha war einer der ersten. Als am Montag vormittag die Ermordung des Journalisten Gibran Tueni bekannt wird, verlässt er wie viele andere Studenten auch den Hörsaal und geht zum Märtyrerplatz im Zentrum von Beirut. Dort liegt die Redaktion der Zeitung Al-Nahar, deren Chefredakteur Tueni war. Ragha, ein 20-Jähriger mit dünnen, hellen Locken, steht jetzt schon seit Stunden hier. Mittlerweile ist es Abend geworden,ein paar Leute haben Lautsprecher aufgebaut, man hört die berühmte Sängerin Feiruz eines ihrer melancholischen Lieder singen.
Oliver Fischers Beirut-Blog
12 Wochen Beirut - Marilyn oder das Solarium der Araber
"Es ist einfach traurig", sagt Ragha. "Sie töten unsere Besten". Seine Augen sind gerötet, als er das gesagt - aber das kann auch an dem Smog liegen, der seit Tagen über der Stadt hängt. Dann zählt er die Namen der Opfer auf: Rafik Hariri, der ehemalige Premierminister, ermordet im Februar. Der Journalist Samir Kassir, der ebenfalls für Al-Nahar arbeitete und im Juni durch eine Autobombe starb. May Chidiac, eine syrienkritische Fernseh-Moderatorin - sie wurde bei einem Anschlag Ende September schwer verstümmelt. Und jetzt Gibran Tueni, 48 Jahre alt, Parlaments-Abgeordneter und Journalist, bekannt für seine scharfen Leitartikel gegen das syrische Regime, das den Libanon mehr als 25 Jahre besetzt hielt.
"Wir Libanesen waren uns noch nie so einig
Ragha hat sich ein Tuch in den libanesischen Nationalfarben Weiß und Rot um den Hals geknotet. Ein ähnliches Tuch trug Gibran Tueni, als er bei der großen Demonstration im März hier auf dem Märtyrerplatz eine umjubelte Rede hielt, die Bilder werden seit dem Vormittag immer wieder im Fernsehen gezeigt. "Seit dieser Demonstration und dem Abzug der Syrer habe ich das Gefühl, dass es vorwärts geht mit unserem Land", sagt Ragha. " Jetzt will uns irgendjemand zurückdrängen. Doch das wird ihm nicht gelingen. Wir Libanesen waren uns noch nie so einig" Wer die Attentäter waren, ist für ihn klar: die Syrer. "Wer sonst hätte einen Grund dazu?"
Fast alle hier glauben, dass es die Syrer waren. Zehn Meter weiter stehen ein paar junge Frauen, einige von ihnen in schwarzen Business-Kostümen. "Es ist Rache, ganz klar", sagt eine von ihnen. " Tueni war der erste, der nach den verschwundenen libanesischen Gefangenen in Syrien fragte." Und er war der erste, der die Syrer für das Massengrab verantwortlich machte, das vor ein paar Wochen oben in den Bergen entdeckt wurde.
Am ersten Arbeitstag explodierte Tuenis Wagen
Natürlich spricht das alles für von Syrien gesteuerte Täter. Dafür spricht auch die große Menge Sprengstoff (vierzig Kilo) und der Zeitpunkt: Tueni war erst am Sonntag in den Libanon zurückgekehrt, nachdem er für mehrere Monate aus Sicherheitsgründen nach Frankreich gezogen war. An seinem ersten Arbeitstag, auf dem Weg in die Redaktion, explodierte sein Wagen. So schnell und effizient bomben nur Profis. Dagegen spricht nur, dass ein solcher Anschlag den Syrern zur Zeit überhaupt nicht nützt. Am Dienstag erscheint der zweite Teil des Mehlis-Reports über das Hariri-Attentat, die Hinweise auf eine syrische Verwicklung haben sich verstärkt. Sanktionen gegen das Land sind wahrscheinlich. Warum sollte die syrische Regierung jetzt die Lage eskalieren lassen?
"Das ist denen egal", sagt Dina, 28, einer der Frauen. "Die Syrer machen auch Attentate, wenn sie ihnen schaden. Sie sind so dumm. Ich hasse alle Syrer." Ihre Freundinnen differenzieren: Natürlich nicht alle, sondern nur die syrische Regierung und besonders den Präsidenten Bashar Assad.
Gefühl von Freiheit
Ein paar Momente später entsteht eine kleine Verwirrung , weil sich Dina plötzlich nicht mehr sicher ist, ob sie mit einem deutschen Reporter spricht oder mit einem Undercover-Agenten des syrischen Geheimdienstes. Dann meint sie, es sei ihr egal, für wen ich arbeite. "Auch wenn Sie ein Geheimagent sind, schreiben Sie auf, dass wir die Syrer hassen, hassen, hassen."
Die Lage entspannt sich wieder, die Frauen fangen jetzt an, auf Arabisch Syrerwitze zu erzählen, die - so sagen sie - leider unübersetzbar sind. Gegen halb elf ist der Platz fast leer, die Musik wird abgestellt. Die Frauen verabschieden sich und gehen herüber zum Grab von Rafik Hariri, das in der Nähe liegt.
Ragha und ein paar seiner Freunde stehen noch immer auf dem Platz. "Wenn die Polizei uns nicht wegscheucht, bleiben wir die ganze Nacht." Was immer die Täter wollten, meint er, sie werden es nicht erreichen. " Genau wie im März", sagt er, "spüre ich hier wieder dieses Gefühl von Freiheit. Für uns ist heute wieder eine Art Unabhängigkeitstag."