Ukraine Ohrfeigen für den Staatsapparat

Die Ukraine wartet auf eine Entscheidung des Obersten Gerichts. Das wiederum verlangt unerbittlich Aufklärung über die beklagten Wahlmanipulationen. Alle großen TV-Sender übertragen live. Zum Verdruss des Apparats bietet jetzt noch die EU neue Perspektiven.

Auf den Schultern des ukrainischen Richters Anatoli Jarema lastet eine große Verantwortung. Der stellvertretende Vorsitzende des Obersten Gerichtes muss mit seinen Kollegen ein detailliertes Urteil über die tausendfach beklagten Wahlmanipulationen sprechen. Diese Entscheidung soll den Weg frei machen für eine Wiederholung der umstrittenen Stichwahl oder aber für eine Neuwahl.

Das Oberste Gericht nimmt es sehr genau. Alle großen Fernsehsender des Landes übertragen live, wie die Richter dieser Tage die Leiter der regionalen Wahlkommissionen stramm stehen lassen. Unerbittlich verlangt das Gericht Aufklärung darüber, wie es zu mehrfachen Stimmabgaben kam und weshalb einzelne Protokolle über Wahlergebnisse seit dem Tag der Stichwahl vom 21. November verschwunden sind.

Bereits vor der Urteilsverkündung ist der Prozess nach Ansicht von Beobachtern eine Ohrfeige für den Staatsapparat von Präsident Leonid Kutschma. Ihm gibt die Opposition die Hauptverantwortung für die beanstandeten Unregelmäßigkeiten. Theoretisch haben die Richter bis Mitte nächster Woche Zeit, ihr Urteil zu verkünden. Allgemein wird aber eine Entscheidung noch in dieser Woche erwartet. Vor allem die Opposition um Viktor Juschtschenko dringt auf ein Ergebnis, um die abgeflaute Begeisterung der Demonstranten auf der Straße nach fast zwei Wochen Dauerprotesten wieder anzufachen.

Kutschma bei Putin

Die Rechtslage ist in der Ukraine im Moment äußerst kompliziert. Hinter den Kulissen streiten Opposition und alte Staatsmacht über Wahlfragen, Termine und um eine Verfassungsreform. Noch immer scheint Kutschma nicht bereit, das Heft aus der Hand zu geben. Bei einem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am Donnerstag in Moskau sagte Präsident Leonid Kutschma: "Ohne russische Anstrengungen in der politischen Krise wird es unmöglich sein, sie zu beenden, ohne dass die Ukraine ihr Gesicht verliert." Putin verwies auf den großen Anteil ethnischer Russen in der Ukraine, die er ein "vollständig russischsprachiges Land" nannte. Russland werde alles tun, um zu einer Stabilisierung der Lage beizutragen, sagte Putin nach russischen Agenturberichten. Das kurze Gespräch der Präsidenten fand am Moskauer Regierungsflughafen Wnukowo-2 statt. Kutschma wollte gleich im Anschluss nach Kiew zurückkehren.

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte im Wahlkampf einseitig auf den später offiziell zum Sieger erklärten Regierungschef Viktor Janukowitsch gesetzt. Zum Ärger der Russen aber gerät der mehrfach vorbestrafte Ministerpräsident zunehmend ins Abseits, wobei auch das Misstrauensvotum des Parlaments gegen die Regierung eine wichtige Rolle spielt. Es bleibt abzuwarten, ob das Urteil des Obersten Gerichts genau festlegt, wie die allgemein erwartete Wiederholung der Wahl ablaufen soll. Kutschma setzt darauf, den Wahlprozess von vorn zu beginnen. Den Platz Janukowitschs könnten dann der bisherige Nationalbankchef Sergej Tigipko oder der Parlamentsvorsitzende Wladimir Litwin einnehmen.

Die Opposition dagegen will, wenn überhaupt, nur einer baldigen Wiederholung der Stichwahl zwischen Juschtschenko und Janukowitsch zustimmen. Diese Variante befürwortet auch Bundesaußenminister Joschka Fischer. So oder so wäre eine Änderung des Wahlgesetzes notwendig. Um die Angelegenheit noch komplizierter zu machen, fordern mehrere Seiten eine zeitgleiche Verabschiedung einer seit langem diskutierten Verfassungsreform. Die sieht eine Schwächung des Präsidenten und mehr Vollmachten für Regierungschef und Parlament vor.

Demonstranten richten sich ein

Die Opposition richtet sich angesichts schleppender politischer Entwicklungen auf dauerhafte Proteste über Wochen oder vielleicht auch Monate ein. Das Zeltlager auf der Prachtstraße Chreschtschatik neben dem Platz der Unabhängigkeit beherbergt nach Angaben der Organisatoren dauerhaft 5000 Menschen. "Bislang zeichnet sich nicht einmal eine Lösungsperspektive ab", urteilt ein Fachmann aus dem erweiterten Kreis der internationalen Vermittler.

Die meisten der kleinen Touristenzelte sind großen Armeezelten mit einer Kapazität von 20 oder mehr Personen gewichen. Die neuen Unterkünfte verfügen über Kanonenöfen. Geschlafen wird in modernen Schlafsäcken auf Luftmatratzen oder Styroporplatten, um der Feuchtigkeit zu entgehen. So lassen sich auch Nachtfröste von zehn Grad einigermaßen erträglich überstehen.

Innerhalb des Zeltlagers ist für beinahe alle Bedürfnisse gesorgt. An mehreren Ecken wird Essen ausgeteilt, Ärzte kümmern sich in Spezialzelten um die Gesundheit der Demonstranten. An ausgewiesenen Stellen können Sympathisanten Lebensmittel, Kleidung oder Brennholz abgeben.

Auch die seit über einer Woche andauernde Blockade des Präsidentenamtes erweckt den Eindruck einer perfekten Organisation. Alle paar Tage werden die verfrorenen Demonstranten durch frische Kräfte ausgetauscht. Eine Gulaschkanone versorgt die Oppositionsanhänger. Damit auch die dicht aneinander stehenden Wachpolizisten bei Laune bleiben, tanzen einige in orange gekleidete Mädchen vor ihren Augen zu Musik aus Lautsprechern.

Brüssel reicht Kiew die Hand

Die EU-Kommission hat der Ukraine signalisiert, dass ein Beitritt des Landes zur Europäischen Union auf längere Sicht nicht ausgeschlossen ist. "Unsere Tür ist offen", sagte die Sprecherin von EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner in Brüssel. In der Frage sei "noch keine Entscheidung" gefallen. Sprecherin Emma Udwin verwies allerdings auf ein bestehendes Partnerschaftsabkommen der EU mit der Ukraine, das noch nicht ausgeschöpft sei. In der näheren Zukunft sollten sich die Beziehungen beider Seiten auf dieses Abkommen konzentrieren, sagte Udwin. "Wir würden engere Beziehungen mit der Ukraine begrüßen." Wenn die Ukraine auf längere Sicht Mitglied der EU werden wolle, dann müsse das Land zunächst einen Beitrittsantrag stellen. Die abgetretene Kommission unter Präsident Romano Prodi hatte einen Beitritt des Landes zur Europäischen Union ausgeschlossen.

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Stefan Voß/DPA