Umstrittene Tradition Reiche Chinesen schicken Ersatzhäftlinge in den Knast

In der Volksrepublik ist es seit Jahrhunderten Praxis: Vermögende sitzen Gefängnisstrafen nicht selbst ab. Das Internet sorgt dafür, dass der Freikauf nicht mehr so leicht ist.

Bei einem illegalen Rennen in der Stadt Hanghzou überfährt der Sohn einer reichen Familie einen 25-jährigen Telefontechniker, der auf einem Zebrastreifen überqueren will. Der Fahrer ist so schnell unterwegs, dass das Opfer als Folge des Aufpralls zig Meter durch die Luft geschleudert wird. Der junge Mann stirbt noch am Unfallort. Zeugen fotografieren den 20-jährgen Täter, der mit seinen ebenfalls wohlsituierten Freunden entspannt rauchend und lachend auf die Polizei wartet.

Der Fall, über den das amerikanische Magazin "Slate" berichtete, löste heftige Proteste in China aus. Zum einen, weil die Polizei offensichtlich versuchte, den Fahrer - da aus reicher Familie - in Schutz zu nehmen, in dem sie die Geschwindigkeit des Unfallautos maßlos untertrieb. Sie musste wegen der öffentlichen Proteste später zurückrudern und zugeben, dass der Mann nicht mit 70 km/h unterwegs war, sondern etwa doppelt so schnell fuhr, und sein Auto frisiert war. Noch größer aber wurde die Empörung, als der Verdacht aufkam, dass der Fahrer seine dreijährige Haftstrafe nicht selbst absitzt.

Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die chinesiche Praxis des Ersatzhäftlings, die im Chinesischen gar eine eigene Bezeichnung hat: ding zui (Ersatzkrimineller). Dahinter steht, dass sich reiche und politisch einflussreiche Menschen im Gefängnis "vertreten" lassen, aber auch dass Familienmitglieder sich "opfern" oder Vorgesetzte "Vertreter" ins Gefängnis schicken. 2009 habe ein Klinikdirektor, der einen tödlichen Unfall verursacht hatte, den Vater eines Angestellten dafür bezahlt zu "gestehen" und ins Gefängnis zu gehen, berichtet das "Slate"-Magazin. In einem anderen Fall bezahlte demnach ein Bauleiter, der mit einem Truck eine alte Frau totgefahren hat, für rund 16.500 Dollar einen Ersatz gekauft, um nicht hinter Gitter zu müssen. Ein anderer ding zui bekam rund 31 Dollar pro Hafttag.

Alte Praxis

Mittels Ersatzhäftling hebeln die Oberen Zehntausend - die bei Chinas 1,34 Milliarden Einwohnern eine ganz andere Bedeutung haben als in unseren Breitengraden - die Justiz zu eigenen Gunsten aus. Sonst kennt man das Kaufen eines Unschuldigen, der für den wahren Täter in Haft geht, wenn denn seine Familie versorgt wird, eher als Mafiagebaren.

Das Haft-Double sei "nicht alltäglich, aber auch nicht selten", lässt sich ein Polizeibeamter ohne Namen aus Zentralchina zitieren. Wenn Fotos oder Videos vorliegen, würden manche sogar nach Doppelgängern suchen, um ihrer Strafe zu entgehen. Doch in Zeiten des Internets, da Fotos und Videos sich verbreiten und vergleichen lassen, werden Ersatzhäftlinge schneller entlarvt - und das führt immer häufiger zu öffentlicher Empörung. Der Wandel geschehe, aber auf Grund der Internetzensur sehr langsam, heißt es aus China. Vor allem in Weibo, der chinesischen Version von Twitter, fänden solche Geschichten schnell Verbreitung. Immerhin sollen rund 505 Millionen Chinesen das Internet benutzen.

"Ist ganz China blind?"

Bereits im 19. Jahrhundert haben Missionare und Reisende aus Europa von der Praxis des Ersatzhäftlings berichtet. 1899 stellte Ernest Alabaster, Student des chinesischen Rechts, fest, dass das Erbringen eines Ersatzes erlaubt sei. Diese Dinge "passieren häufig, passieren seit langer Zeit, und werden (...) immer passieren." 1848 habe der Kurs für ein Double bei 17 Pfund gelegen, heute seien es 2000 Dollar, so der Bericht. Und auch Egon Erwin Kisch hat es in seinem Buch "China geheim" erwähnt. Erstaunlich sei aber vor allem, dass die ungerechte Praxis den Kommunismus überlebt habe. Das spreche wohl auch für die Rückkehr des Kapitalismus.

Im Fall des reichen Sohnes, der den Telefontechniker überfahren und getötet hat, waren es ebenfalls Internetproteste, die den Verdacht des Doubles aufkommen ließen. Fotos wurden verglichen - aufgenommen kurz nach dem Unfall und im Gericht. "Soll das verdammt noch mal dieselbe Person sein? Ist ganz China blind?", war der Kommentar. Die drei Jahre, die der Täter erhalten hatte, seien im vergangenen Juli rum gewesen, schreibt "Slate". Wer nach Ablauf der Strafe in die Freiheit entlassen wurde, ist unklar. Der Vater des Opfers gehört zu denen, die bezweifeln, dass der Fahrer wirklich im Gefängnis gesessen habe. Die Familie des Straftäters hüllt sich in Schweigen. Ihr Anwalt teilte lediglich mit: kein Kommentar.

sal/Fu