Vor sechs Wochen trafen sich ungefähr 300 freundliche, unscheinbare Menschen in einem Senatsgebäude in Washington. Im Trubel des Wahlkampfes wurde ihre Zusammenkunft kaum wahrgenommen - und eigentlich wollten sie auch viel lieber im Hintergrund bleiben. "Road to Victory 2004" hieß die Strategie-Konferenz der "Christian Coalition" und die "Straße zum Sieg" führte sie ins Herz des politischen Systems, dorthin, wo die Senatoren ihre Büros haben. Wo ihre Telefone klingeln, wenn sie nicht nach dem Willen ihrer Wähler stimmen.
An diesem strahlenden Herbsttag in Washington schworen sich 300 Aktivisten der christlichen Rechten, der Evangelikalen, auf den Sieg ihres Präsidenten ein. Glasklar die Botschaft der Redner, Priester und Senatoren, konservativen Kongressabgeordneten und zum Schluss gar des Predigers Jerry Falwell: Bush muss eine zweite Amtszeit bekommen, um die konservative Agenda der christlichen Rechten zu vollenden. Und dazu gehören vor allem Verfassungsänderungen und die Neubesetzung des Obersten Gerichtes der USA, des Supreme Court, mit konservativen Kandidaten. "Wir sind Millionen Menschen", sagte Jerry Falwell, "und wir werden jedes Jahr mehr. An uns kann niemand mehr vorbei."
Und niemand vergaß zu erwähnen, dass George W. Bush ein Mann Gottes sei. Und es scheint, dass Amerika am Morgen des 3. November als anderes Land aufwachte: George W. Bush gewann seine Wiederwahl mit vier Millionen Stimmen - noch nie errang ein Präsident einen so überwältigenden Sieg über seinen Herausforderer. Die Landkarte strahlt im satten Rot der Republikaner - die Demokraten verbannt an die Küsten-Staaten.
Four more years
Am Morgen des 3. November erwachte Amerika als konservatives Land. Four more years. Fassungslos blickt die Welt auf die USA. Es lag zuletzt wohl auch gar nicht mehr an Kerry, dem vermeintlichen unentschlossenen "Flip-Flopper". Er hatte so viel an Statur gewonnen in den letzten Wahlkampfwochen, an präsidialer Haltung gar. Doch er konnte dem zutiefst verunsicherten Land keine Botschaft der Hoffnung vermitteln. Und die radikalen Aktivisten der Rechten waren mindestens ebenso gut organisiert wie die leidenschaftlichen demokratischen Wahlhelfer. Außerdem war George Bush für seine knapp 59 Millionen Wähler einfach authentischer. Denn George W. Bush glaubt wirklich, was er sagt. Er ist überzeugt von dem, was er tut.
Es war eine Wahl der Angst, eine Wahl für die trügerische Sicherheit der "präventiven" Kriege gegen monströsen Terror. Eine Wahl auch für einen Präsidenten, den man mag und ihm dafür sogar die Lügen verzeiht und die Fehlentscheidungen, die geradewegs ins Irak-Desaster führten. Als ob sich das Land immer noch nicht erholt hat vom Schock des 11. September.
Vor allem aber war es eine Wahl für die einfachen, die fundamentalen moralischen Werte, die durch die komplizierte, gefährliche Welt helfen sollen. Die Werte der christlichen Rechten wie die "Christian Coalition": Amerika ist gut, denn es ist ein Land Gottes. Amerika ist frei und der Welt ein Vorbild. Amerika benötigt eine moralische Erneuerung - nun soll die Epoche der linken Liberalen endgültig zu Ende gehen. Und dafür hat George W. Bush nun das demokratische Mandat seines Volkes.
"Das Land braucht Heilung"
Zur Einheit ruft man nun auf nach dem Wahl-Krieg der vergangenen Monate. "Das Land braucht Heilung", flehte John Kerry in seiner emotionalen, würdevollen Rede, in der er seine Niederlage eingestand. Zaghaft hoffen moderate Konservative, der Präsident werde jetzt endlich die Neokonservativen um Verteidigungsminister Donald Rumsfeld abservieren, die das Land in das Irak-Desaster getrieben hatten - und Rumsfeld gleich mit dazu. Kommentatoren spekulieren, ob Bush nun außenpolitisch pragmatischer werden könne, auf Verbündete zugehen werde - auch, um die Verantwortung für den Irak zu teilen. Vielleicht werde er zumindest moderater im Ton, heißt es.
Doch nach diesem überwältigenden Wahlsieg werden George W. Bush und sein Vizepräsident Richard Cheney nun ihre konservative Revolution vollenden. "Wir gehen in eine Zeit der Hoffnung", sagte der Präsident in seiner Siegesrede. Er werde eine "konsequente Präsidentschaft" verfolgen. Dabei kann sich dieses Land weitere vier Jahre Bush gar nicht mehr leisten. Die USA seien auf dem falschen Weg, meinen selbst viele moderate Republikaner. Der Krieg im Irak - ein Desaster, aus dem es kaum einen Ausweg gibt. Ein Bürgerkrieg droht, fürchten mittlerweile auch hochrangige Militärs und wissen doch: ein Rückzug aus dem Irak würde dem Terror zu neuer Blüte verhelfen. Und im eigenen Land sind wichtige Bürgerrechte bedroht, die Menschenrechte in den Gefängnissen von Guantanamo verletzt.
Feindbild der Welt
Die USA sind Feindbild für weltweit immer mehr Menschen. "Allein in Westeuropa haben die USA 30 Prozent ihrer früheren Attraktivität verloren", meint der Politikwissenschaftler Joseph Nye von der Harvard Universität. "In Indonesien, dem größten moslemischen Land der Welt, sind es 50 Prozent. So erleben wir heute das Paradox amerikanischer Macht: die USA sind die größte Militärmacht seit dem alten Rom. Aber wir sind dennoch nicht in der Lage, transnationale Probleme allein zu lösen."
Der momentane Wirtschaftsaufschwung täuscht über gigantische Probleme hinweg. Denn über dem Irak-Krieg wurde im Rest der Welt übersehen, dass Bushs Revolution schon längst marschiert: die "Neoconomy". Seine radikalen Steuersenkungen der vergangenen vier Jahre haben die Reichen noch reicher gemacht. Allein in diesem Jahr machen sie 290 Milliarden Dollar aus. Denn den oberen Einkommensgruppen kommen über 70 Prozent dieser Steuererleichterungen zugute. Und weitere Steuersenkungen sollen folgen: " Die glückliche Minderheit, die ihr Einkommen aus Zinsen und Aktiengewinnen bestreitet, würde in der Zukunft keine Steuern mehr zahlen", schreibt der Ökonom Daniel Altman in seinem Buch "Neoconomy".
"Keinen Pfennig mehr für staatliche Krebsforschung, Diplomatie oder Straßenbau. Diese wohlhabende Minderheit würde auf Kosten der Arbeitnehmer leben." Die Folgen dieser Politik sind schon jetzt dramatisch: der Staat geht pleite. Als Bush vor vier Jahren antrat, hatte er ein dickes Plus von jährlich 127 Milliarden Dollar in der Staatskasse. In diesem Jahr beträgt das Defizit bereits 422 Milliarden Dollar - und in den kommenden zehn Jahren kann es auf bis zu fünf Billionen Dollar wachsen. "Aus zwei Prozent Haushaltsüberschuss vor vier Jahren ein Defizit von heute mehr als drei Prozent - ein gigantischer Umschwung", sagt der US-Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz.
Budgetdefizit, Handelsbilanzdefizit und Jobdefizit
Gut durchdachte Steuererleichterungen in dieser Größe hätten die Wirtschaft enorm angekurbelt. Doch heute haben wir nicht nur ein Budgetdefizit, sondern auch ein Jobdefizit. Und zu all dem kommt noch das Handelsbilanzdefizit. Das reichste Land der Welt leiht sich zwei Milliarden Dollar pro Tag. Das trägt bei zum schwachen Dollar sowie weltweiter Unsicherheit und Instabilität bei. Wird diese Politik fortgesetzt, würden die Zinsen unweigerlich steigen, die Wirtschaft und der Dollar immer schwächer werden. Es könnte innerhalb der nächsten fünf zu einer riesigen Finanzkrise kommen."
Doch all dies wird George W. Bush nicht anfechten. Im Gegenteil: Er sei überzeugt: Gott habe ihn erwählt, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, vertraute Bush einmal einem Geistlichen an. Gestützt auf diesen tiefe Überzeugung, auf den Rat weniger, vollkommen loyaler Mitarbeiter und auf eine sichere Mehrheit im US-Kongress will er seine Revolution vollenden. Die Aufgaben des Staates, Rentenversicherung und Krankenversorgung, auf ein Minimum begrenzen. Im neuen Amerika des George W. Bush muss jeder sein eigenes Glück verantworten. In seiner Sprache heißt dies: "ownership society"- die Gesellschaft der Besitzenden. Und er wird seine Revolution auch in den Supreme Court tragen, ins mächtige Verfassungsgericht. Dort den Auftrag seiner christlichen Wähler erfüllen. In den nächsten Jahren wird der Präsident drei, eventuell vier neue Richter ernennen können. Bürgerrechtler fürchten, Bush wird konservative Richter ernennen. Richter, die etwa die Ehe allein als Bund zwischen Mann und Frau erklären und möglicherweise auch das Recht auf Abtreibung aushebeln - dann könnten bis zu 30 Bundesstaaten Abtreibung verbieten.
Seit dem 3. November 2004 darf sich George W. Bush wirklich auserwählt fühlen. Doch für sein Land kann es ein böses Erwachen werden.