Die Hände ehrfurchtsvoll zusammengefaltet, steht Selçuk Bayraktar am Rande eines Trümmerhaufens in Kahramanmaraş. Er blickt direkt in die Kameralinse vor ihm, aus dem Off erheben sich bedeutungsschwere Klavierklänge, kurzer Schnitt auf eine stolz flatternde türkische Fahne. In den nächsten Sekunden sieht man Bayraktar in Zeitlupe mit trauernden Frauen sprechen, die Hände von Feuerwehrleuten schütteln, durch neu errichtete Wohnviertel stampfen. Er, so die Botschaft, habe im Erdbebengebiet der Türkei mit angepackt wie sonst kaum einer. Sachspenden, Finanzhilfen, Immobilienprojekte. Guter Videostoff für je fast drei Millionen Follower auf Instagram und X.
So posiert ein Präsident. Oder?
Selçuk Bayraktar ist formell noch nicht einmal Politiker. Mit seinem Bruder leitet er eine Firma namens Baykar, die früher Autoteile und heute Kampfdrohnen produziert. Seit diesem Jahr ist er der größte Steuerzahler der Türkei. Das vielleicht wichtigste Detail aber: Er hat 2016 in einem Kongresszentrum an einer Lagune des Marmarameers Sümeyye Erdoğan geheiratet, die jüngste Tochter des tatsächlichen Staatsoberhaupts. Und all das – Reichtum, Militärmacht, Familienbande – hängt zusammen, denn: Bayraktar könnte tatsächlich einmal an der Spitze der Türkei stehen. Vom First Schwiegersohn zum Erbpräsidenten.
Es hat sich eine gewisse Erdoğan-Müdigkeit breitgemacht
Noch residiert im gigantomanischen 300-Zimmer-Palast zu Ankara natürlich Recep Tayyip Erdoğan, und das voraussichtlich bis 2028. Doch das Ende dieser Regentschaft wirft seine ersten Schatten voraus. Erdoğan ist inzwischen 70 Jahre alt. Er wirkt angeschlagen und somit schlagbar. In Zeiten, in denen eine Wirtschaftskrise der Bevölkerung den Atem raubt, hat seine nationalistische Politik sich abgenutzt. "Nach 23 Jahren an der Macht hat sich eine gewisse Erdoğan-Müdigkeit breitgemacht“, sagt Yaşar Aydın vom Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) der Stiftung Wissenschaft und Politik dem stern.
Jüngstes Zeichen dafür sind die Kommunalwahlen Ende März, in denen Erdoğans Regierungspartei AKP abgestraft wurde und einige Rathäuser an die größte Oppositionspartei CHP verlor. Politikwissenschaftler Aydın spricht von einem "Denkzettel“. Und auf dem steht vermutlich, an ziemlich prominenter Stelle: potenziellen Nachfolger suchen: Selçuk Bayraktar?
Eine große Auswahlmöglichkeit scheint Erdoğan ohnehin nicht zu haben. Die innerparteiliche Konkurrenz hat er in den letzten Jahren immer klein gehalten. Er selbst war der Fixstern, nichts sollte neben oder unter ihm strahlen können. Zu den Kommunalwahlen schickte Erdoğan deshalb hauptsächlich fahle Kandidaten ins Rennen. "Innerhalb der AKP tut sich niemand als Nachfolger auf. Es gibt keinen zweiten Mann, noch nicht mal einen dritten, vierten oder fünften“, sagt Aydın. Wenn überhaupt ein Name aus dem Parteikader fällt, dann der von Hakan Fidan, dem aktuellen Außenminister und Ex-Geheimdienstchef.
Auch Erdoğans eigene Kinder scheinen die Fußstapfen des Vaters nicht ausfüllen zu können. Sohn Bilal verstrickte sich in Korruptionsvorwürfe und gilt als Tölpel. Sohn Burak, der Erstgeborene, ist Reeder und in der Familie eher ein Außenseiter. Die beiden Töchter Sümeyye und Esra wurden politisch kaum aufgebaut. Und Schwiegersohn Nummer zwei, Berat Albayrak, der früher einmal als Erdoğan-to-be gehandelt wurde, hat sich zuletzt an seiner kurzen Zeit als Finanzminister verbrannt.
Bleibt also der seit einigen Monaten als Nachfolger kursierende Selçuk Bayraktar. "Ich kann mir das aus verschiedenen Gründen vorstellen“, sagt Forscher Aydın. "Erdoğan hat Angst um seine Zukunft. Er braucht einen Nachfolger, dem er Vertrauen kann. Bayraktar wäre so jemand."
Akzentfreies Englisch, Gelfrisur, Pilotenbrille: Bayraktar symbolisiert den Aufstieg seines Landes
Der 44-Jährige ist auch im Volk beliebt, ein Star fast schon. Das Englisch fast akzentfrei, die schwarzen Haare steil nach oben frisiert wie die eigene Karriere, die Auftritte in Fliegerjacke und Pilotenbrille. Ein dynamischer und erfolgreicher Unternehmer, gleichzeitig frommer Muslim. Viele Türken sehen in ihm den personifizierten Aufstieg ihres Landes zu einer Hightech-Nation.
Bayraktar stammt aus einer wohlhabenden Istanbuler Ingenieursfamilie. Schon in seiner Jugend bastelte er in der Firma seines Vaters, einem Automobilzulieferer, an funkgesteuerten Modellflugzeugen. Manche versteckte er unter seinem Bett. Aus Spielzeug wurde bald Kampfgerät. An amerikanischen Eliteunis forschte Bayraktar zu autonom fliegenden Drohnen und Hubschraubern. Die Semesterferien verbrachte er beim türkischen Militär. Der Titel seiner Masterarbeit: "Aggressive Landemanöver unbemannter Drohnen".

Heute ist er Technikvorstand des Familienunternehmens und verantwortlich für den größten Exportschlager der Türkei: Bayraktar TB2, Spannweite zwölf Meter, ausrüstbar mit lasergesteuerten Mini-Bomben. Experten nennen sie auch die "Kalaschnikow unter den Kampfdrohnen", kein Überflieger, aber eben zuverlässig und im Vergleich zur amerikanischen und israelischen Konkurrenz sehr günstig.
Der geringe Preis macht die TB2 attraktiv für kriegstreibende Entwicklungsländer – und damit zur perfekten Propagandamaschine für Erdoğan, der sein Land gerne als Mittelmacht zwischen Europa, Afrika und dem arabischen Raum sieht. Militärische Stärke bedeutet für ihn globalen Einfluss. In mehr als zwei Jahrzehnten Erdoğan wuchs die türkische Rüstungsindustrie um ein Zehnfaches. Und einen großen Anteil daran hat der Schwiegersohn.
Mit über 30 Staaten hat die Türkei bereits Lieferverträge für Bayraktars Drohnen geschlossen. Darunter sind Nato-Staaten wie Polen und Rumänien, aber vor allem auch Länder wie Turkmenistan, Katar, Marokko, der Tschad oder Dschibuti. In Nigeria brachten die Drohnendeals Erdoğan Zugang zu Flüssiggas. In Äthiopien ließ er für den Export der TB2 Schulen des verhassten und exilierten Oppositionellen Gülen schließen. "Waffenhandel hat immer auch eine diplomatische Dimension. Erdoğan profitiert von dieser Firma. Er hat sie dafür auch mächtig unterstützt und aufpoliert. Es ist ein Geben und Nehmen“, sagt Experte Aydın.
Der "New Yorker" titelte einst: "Die türkische Drohne, die das Wesen der Kriegsführung änderte". Die türkische Armee setzt die TB2 seit Jahren erfolgreich in ihrem brachialen Kampf gegen die Kurden ein – im Irak, Syrien und dem Südosten des eigenen Landes. Der Verbündete Aserbaidschan gewann dank ihrer Hilfe auch den Krieg gegen Armenien um die Region Bergkarabach.
Und in der Ukraine hat der Name Bayraktar inzwischen schon Kultstatus erreicht. Ein Song wurde nach der surrenden Kampfmaschine und ihrem Entwickler benannt, genauso wie ein Lemur im Kiewer Zoo. Gerade in der Anfangsphase des russischen Angriffskrieges, als Putin auf die ukrainische Hauptstadt zumarschierte, waren die türkischen Drohnen ein effektives Mittel gegen feindliche Panzerwagen. Selçuk Bayraktar ist inzwischen stolzer Träger eines ukrainischen Verdienstordens.
Erdoğan bliebe noch ein Kniff, um an der Macht zu bleiben
Der Waffenmann vertrat die Türkei zuletzt immer öfter im Ausland. Er hält nun Reden, nimmt an Solidaritätsdemonstrationen für die Palästinenser teil. Zuvor hatte er sich kaum im politischen Tagesgeschäft gezeigt. Bringt sich da jemand in Stellung? Oder macht Erdoğan doch noch länger weiter?
Die Verfassung sieht nur zwei Amtszeiten für den Präsidenten vor. Erdoğans Zeit wäre demnach 2028 abgelaufen. Vor den Kommunalwahlen sagte er: "Im Rahmen der Gesetze sind diese Wahlen meine letzten." Doch den Rahmen hat der Potentat oft schon nach außen skaliert, vor allem durch eine Verfassungsänderung 2017.
Dass er das oberste Gesetz noch einmal zu seinen Gunsten dehnen wird, glaubt Yaşar Aydın nicht: "Er hat nicht die nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament." Doch Erdoğan bliebe ein zweiter Trick, um seine Amtszeit künstlich zu verlängern: Dann nämlich, wenn das Parlament Neuwahlen ausriefe. "Gelingt ihm jetzt innerhalb von zwei Jahren die wirtschaftliche Gesundung, dann könnte er diesen Schritt gehen", meint Aydın.
Und wenn nicht, stünde Bayraktar dann bereit? Übersetzt heißt sein Name "Fahnenträger“. Würde er Halbmond und Stern nicht nur im militärischen, sondern auch im politischen Sinne in der Welt vertreten?
Noch widmet sich der Ingenieur seinen Fluggeräten. Die TB2 hat ein Nachfolgermodell namens Akıncı bekommen. Saudi-Arabien kaufte bereits eine große Stückzahl im Wert von drei Milliarden US-Dollar. Erdoğan spricht vom "größten Exportvertrag" der türkischen Rüstungsgeschichte. Gleichzeitig wird in der Firmenzentrale von Baykar gerade an einem unbemannten Kampfflugzeug und Weltraumraketen geschraubt. Selçuk Bayraktar ist ein Mann der großen Projekte. Als er zuletzt in einem Interview gefragt wurde, ob er Ja sagen würde, sollte der Schwiegervater ihn mal als sein Nachfolger benennen, da antwortete er: "Wenn es nötig ist, werde ich mich nicht drücken."