Kaum jemand in der Türkei hatte noch auf eine Koalitionsregierung gehofft. Dennoch war die Ernüchterung groß, als der Chef der islamisch-konservativen AKP, Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, am Donnerstag in Ankara vor die Presse trat. Man habe "keine Grundlage für eine Partnerschaft" gefunden, verkündete er nach den Verhandlungen mit Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu. Mehr als zwei Monate nach der Parlamentswahl sind damit so gut wie alle Hoffnungen auf eine Lösung der politischen Krise verpufft. Während das Land aller Voraussicht nach auf Neuwahlen im November zusteuert, versinkt es immer tiefer in der Gewalt.
"Ich denke, dass die Türkei eine historische Gelegenheit verpasst hat", sagte Kilicdaroglu am Donnerstag. Noch vor dem Scheitern der Gespräche hatte die Zeitung "Hürriyet" ihn mit den Worten zitiert, Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sei "das größte Hindernis" auf dem Weg zu einer Koalition. Die Opposition vermutet, dass Erdogan seit der Wahlschlappe seiner AKP auf Neuwahlen hinarbeitet.
AKP weiterhin von absoluter Mehrheit entfernt
Die Partei hatte bei der Wahl am 7. Juni fast zehn Prozentpunkte und damit ihre absolute Mehrheit eingebüßt - obwohl sich Erdogan persönlich in den Wahlkampf eingeschaltet hatte. Die AKP-Verluste bedeuteten auch, dass Erdogan bei den neuen Verhältnissen sein
wichtigstes Projekt nicht verwirklichen kann: Ein Präsidialsystem einzuführen und seine Macht auszuweiten. Erdogan dürfte nun darauf spekulieren, dass die AKP bei Neuwahlen die nötigen Mehrheiten für ein entsprechendes Verfassungsreferendum einfährt.
Das ist ein riskantes Spiel, denn zumindest bislang sind in Umfragen keine entscheidenden Abweichungen vom Juni-Wahlergebnis zu erkennen. Was Erdogan besonders wurmen dürfte: Die von ihm zum Hauptgegner auserkorene pro-kurdische HDP, die der AKP mit dem Einzug ins Parlament ihre absolute Mehrheit zerschossen hat, liegt in den Umfragen weiterhin über der Zehn-Prozent-Hürde.
Was führt Erdogan im Schilde?
45 Tage sieht die türkische Verfassung zur Regierungsbildung vor, die Frist endet übernächsten Sonntag. "Ich habe nicht die Berechtigung, die 45 Tage auszudehnen", sagte Erdogan noch vor dem Scheitern der Gespräche zwischen der AKP und der CHP. Das deckt sich allerdings nicht mit der Verfassung, die in Artikel 116 festlegt, dass der
Präsident nach dieser Frist Neuwahlen ausrufen kann, aber nicht muss. Erdogans Aussage wurde als weiteres Indiz dafür gedeutet, dass der Präsident das Volk so schnell wie möglich an die Wahlurne bringen will - in der Hoffnung auf einen Stimmenzuwachs für die AKP.
Neuwahlen können allerdings frühestens im November stattfinden - es wäre die vierte landesweite Abstimmung in weniger als zwei Jahren, die Türkei kommt kaum aus dem Wahlkampfmodus heraus. Die politische Instabilität würde dann noch über Monate hinweg andauern, obwohl die Türkei sich das eigentlich nicht leisten kann. Denn gleichzeitig eskaliert die Gewalt in der Türkei in atemberaubender Geschwindigkeit, es droht ein neuer Bürgerkrieg mit der PKK. Katalysator war ein Anschlag im südtürkischen Suruc am 20. Juli, für den die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verantwortlich gemacht wurde. Zwei Tage danach ermordeten Kämpfer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zwei Polizisten, denen sie Kollaboration mit dem IS vorwarfen. Die Täter lieferten der Regierung damit den Anlass, die PKK wieder auf ganzer Front anzugreifen. Die Luftwaffe fliegt seitdem Angriffe auf die Stellungen der PKK, die wiederum einen Anschlag nach dem nächsten auf Sicherheitskräfte verübt. Vergangenen Montag griff die PKK sogar in Istanbul an.
Gewaltspirale nimmt Fahrt auf
Inzwischen vergeht kein Tag mehr, an dem keine Toten zu beklagen wären. Trotzdem zeigen weder die PKK noch die politische Führung der Türkei Kompromissbereitschaft. Die Regierung argumentiert, sie bekämpfe alle Terrorgruppen: Den IS ebenso wie die PKK und die linksextreme DHKP-C, die kürzlich das US-Konsulat in Istanbul beschoss.
Besonders der Konflikt mit der PKK droht das Land zu zermürben. Erdogan sagte in dieser Woche, der Friedensprozess liege auf Eis. Und er machte deutlich, dass es ihm diesmal nicht mehr reicht, sollte die PKK wieder eine Waffenruhe erklären. Die Terroristen müssten das Land verlassen oder ihre Waffen "begraben und einbetonieren", forderte
Erdogan. Er kündigte an, der Kampf werde fortgesetzt, "bis innerhalb unserer Grenzen kein einziger Terrorist übrig bleibt".