Jeder kennt diese Momente, diese zähen Sekunden, die sich unangenehm anfühlen und peinlich. Wenn man im Blümchenkleid auf der Beerdigung erscheint. Wenn das Handy in der Oper den Bolero bimmelt. Ja, jeder kennt dieses Gefühl von rosafarbener Scham - jeder, auch Angela Merkel.
Bei ihr stellt sich dieses Gefühl immer dann ein, wenn sie einen Ball überreicht bekommt. Egal, wann. Egal, wo. Wenn die Kanzlerin einen Ball in den Händen halten und fröhlich in die Kameras lächeln muss, dann steht sie immer so peinlich berührt herum. So fehl am Platz. So angestrengt steif die gewinkelten Arme. Sie hält den Ball vor ihren Bauch, nicht zu fern und bloß nicht zu nah, in halbherziger Distanz. So verharrt sie dann, einige lange, viel zu lange Momente. Wenn Angela Merkel einen Ball in den Händen hält, dann weiß sie nie, wohin - wohin mit diesem runden Ding, wohin mit sich selbst. Der Ball, die Frau, sie passen einfach nicht zusammen.
Zum Fußball spricht sie nur kühl sezierende Sätze
Der Fußball und die Kanzlerin - sie sind auch im Jahr 2006, diesem Jahr des weltgrößten Fußballfestes in Deutschland, noch immer keine Freunde. Mit Angela Merkel regiert eine Frau, die weder mit Fußball noch mit sonst einem Sport je etwas am Hut hatte. Die zu Schulzeiten Bockspringen, Schwimmen und Sprinten hasste. Die bei ihren Pflichtbesuchen im Stadion so kerzengerade auf der Tribüne sitzt, als beschaute sie sich das Pferderennen von Ascot. Die nur senkrecht formulierte Sätze von sich gibt, Sätze wie "Die WM gibt mir die Möglichkeit, dieses Phänomen besser zu verstehen", oder "Die WM ist für mich Pflicht und Kür zugleich" - kühl sezierende Sätze, Sätze, die mit Glück und Taumel, all diesem Irrsinn der echten Fans so ganz und gar nichts zu tun haben.
Bei der Fussball-WM 2006 wird den Deutschen einmal mehr offenbar, was Angela Merkel so andersartig macht als ihre Vorgänger. Gut, sie ist eine Frau. Schön, sie ist Physikerin. Klar, sie verharrt am liebsten in der Pose der adretten Distanz. Doch eine Erkenntnis schlägt den Deutschen erst jetzt entgegen: Angela Merkel ist keine Fußballerin - nicht auf dem Platz und nicht im Herzen.
Kohl und Schröder mit Berti oder Franz
Fußball hat auf Kanzler vom Schlage Kohl und Schröder immer verführerisch gewirkt. Wie gern haben sie sich Seite an Seite mit den Fußballhelden der Nation gezeigt, dem treuen Berti oder dem galanten Franz. Wie sehr haben sie nach wichtigen Spielen Worte des Miteinanders bemüht, volksnahe Worte, die warm klangen und weich in den Ohren der Massen. Sie haben geglaubt, sie haben geweint und gejubelt genau wie das Volk, also mit dem Volk. Haben tatsächlich geglaubt, in diesen Fußball-heilig-seligen Momenten seien sie eins mit denen, die sie regierten. Angela Merkel würde nie auf eine solche Idee verfallen. Im Gegenteil, sie schaut sich mit großen Augen im Lande um und stellt fest, wie eigenartig sich dieses Volk beim Fußball verhält. Das macht sie neugierig. Das will sie begreifen. Mehr nicht.

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An jenem Tag im Mai, als Bundestrainer Jürgen Klinsmann die endgültige Nominierung des Kaders bekannt gibt, steht Angela Merkel im Foyer des Bundeskanzleramtes mit einigen Mitarbeitern herum. Sie erwarten den serbischen Ministerpräsidenten. Er hat sich ein wenig verspätet. Und so stehen sie also einige Minuten im Kreis und diskutieren Klinsmanns Entscheidung, und Angela Merkel fragt und will wissen und fragt. "Wer ist denn bloß dieser Odonkor?" und "Von dem habe ich ja noch nie was gehört" und "Ist der denn gut?" und "Was denken Sie denn darüber?" Sie weiß, der Besuch des Serben wird zur Fußnote des Tages verkümmern. Die Deutschen interessiert heute kein Serbe, kein Hartz IV, keine Gesundheit. In jedem Büro und jeder Werkstatt, in jedem Bus und jedem Restaurant geht es an diesem Tag in Deutschland nur um eines: die Verkündung dieser 23 Fußballernamen. Die Deutschen lieben diesen Sport, und so muss auch Merkel sich mit diesem merkwürdigen Geliebten befassen - als Pflicht einer deutschen Kanzlerin.
Mit der ungewohnten Figur der Fußballmami gefremdelt
Wie bei allen neuen Rollen, in die sich Angela Merkel im Laufe ihrer Karriere hineinfinden musste, so hat sie zunächst auch mit der ungewohnten Figur der Fußballmami gefremdelt. "Sie hat zwar keine große Ahnung, aber sie erzählt immerhin kein dummes Zeug, das ist ja auch schon was", sagt einer aus der CDU-Spitze, der ab und an ein Spiel gemeinsam mit ihr gesehen hat. "Immerhin hat sie mehr Durchblick als ihr Ehemann. Wobei das bei dem Fußballmuffel auch kein Kunststück ist", sagt ein anderer, der lange Jahre mit ihr zusammengearbeitet hat. Und einer, der schon neben ihr auf der Tribüne im Stadion saß, berichtet, sie habe "einen guten Laienblick" und sehe, wer nur auf dem Platz herumstehe und wer der Spielmacher sei.
Kein dummes Zeug, guter Laienblick - es sind diese Art von abschätzigen Kommentaren, dieses männliche Messen an der Latte des Fußball-Durchblicks, der für sie schwer zu ertragen ist. Sie fühlt sich gehemmt im Kreise der Beckenbauers und Zwanzigers, die alle so nonchalant mit der einen Hand in der Hosentasche und der anderen auf der Schulter des Kumpels posieren. Die bodenständige Kanzlerin scheint so ganz und gar nicht zu diesen maßgeschneiderten Männchen im grauen Zwirn zu passen.
"Warum sollen die Männer nicht das Gleiche leisten können wie Frauen"
Also hat sie sich erst einmal in distanzierte Ironie geflüchtet und in ihrer Neujahrsansprache erklärt: "Die Frauenfußball-Nationalmannschaft ist ja schon Fußballweltmeister, und ich sehe keinen Grund, warum Männer nicht das Gleiche leisten können wie Frauen." Dazu hat sie ein bisschen kokett in die Augen der Fernsehzuschauer geblickt. Einige fanden das ganz amüsant. Andere fanden das daneben. Die meisten aber waren zumindest überrascht über diese selbstbewussten Worte einer Frau, die so schlecht in den Fanblock passt wie ein Hooligan in die Unionsfraktion.
Diese neu gewonnene Haltung der selbstbewussten Koketterie hat Angela Merkel vor allem einem zu verdanken: ihrem Vorgänger Gerhard Schröder. Denn bevor der Ex-Kanzler im vergangenen Mai die vorgezogene Bundestagswahl ausrief, machte die Fußballferne der Chefin den CDU-Strategen durchaus große Sorgen. Wie sollte sie im Jahr 2006 vor der Kulisse der Weltmeisterschaft gegen jemanden wahlkämpfen, der mit teuflisch gerunzelten Augenbrauen auf alles Runde drischt, als explodierte in seinem Innern eine mittelgroße Bombe? Wie sollte diese unsportliche Angie, die behauptet, sie sei Fan vom FC Bayern und von Hansa Rostock zugleich, wie sollte die gegen einen Kick-Junkie mit Spitznamen "Acker" bestehen? "Schröder hätte die Weltmeisterschaft mit Sicherheit für sich genutzt. Insofern sind wir froh, dass dieser Kelch an uns vorübergegangen ist", sagt einer von Merkels damaligen Beratern.
Held und Versager, in der Politik wie im Fußball
Politiker wie Schröder, Stoiber, Koch oder Fischer glauben fest daran, dass Politik und Fußball viel miteinander gemein haben. Gern behaupten sie, wer sich im Fußball zurechtfinde, kapiere auch, wie die Politik funktioniere - einfache Spielregeln, Konter und Mauern, Foul und Abseits, Sieg und Niederlage. Held und Versager. Diese Männer teilen miteinander die Erinnerung an den heißen Staub des Fußballplatzes, an diese schwüle Welt aus verschwitzten Socken und heißen Duschen, brüllenden Trainern und ungerechten Schiedsrichtern, an eine Welt, in der sie alle als Jungs ähnlich fühlten - wütend, siegestrunken, erschöpft, mit Blut am Kopf und Schorf am Knie. Die gemeinsame Erfahrung des Fußballs eröffnet für sie eine Welt, in der sie sich instinktiv verstehen. Und so plaudern sie scheinbar oberflächlich über das Halbfinale der EM von 1972 zwischen Belgien und Deutschland und beweisen sich bei diesem Geplänkel doch eine tiefe, gefühlige Nähe. Genau diese Männernähe kann Angela Merkel niemals teilen.
"Ich bin natürlich schon ein Stück neidisch gewesen, wie gut mein Vorgänger doch auch das praktische Fußballspiel kann, aber ich kann dann vielleicht besser eine Betrachtung über die Nervenstärke der Spieler machen", hat Angela Merkel einmal bekannt. Dabei hat sie gelächelt. Ein bisschen unsicher. Ein bisschen bescheiden. Hat auf nettes, charmantes Mädchen gemacht - ein Mädchen, das vielleicht nicht dribbeln, doch dafür klarer denken kann.
Stoiber stotterte sich zum Gespött des Landes
Schon bald nach den Wahlen im September 2005 hat sich Merkel mit ihren Beratern besprochen, wie sie als Kanzlerin mit diesem wichtigen, aber gefährlichen Thema Fußball umgehen soll. Sie weiß, dass sie sich mit Stoiberschem Gestotter - "Die Brasilianer hatten ein fantastisches Trio da vorne mit Ronaldo, Ronaldinho und, äähhh, den anderen Brasilianern" - nachhaltiger als jeder Mann zum Gespött des Landes machen würde. Sie weiß aber auch, dass jede Form von Expertengetue bei ihr peinlich wirken wird. Zu anbiedernd. Nicht glaubhaft. Sie muss nicht schneller als Schröder die 54er-Weltmeister-Namen runterrattern können. Sie kann nur versuchen, ihr ehrliches Interesse so unverfälscht wie eben möglich den Deutschen zu vermitteln.
Genau für diese Strategie wird sie fortan von ihren Beratern mit Informationen über Raute, Flügel und Viererkette sorgfältig gebrieft. Sie muss es erfahren, wenn die Torwartfrage über Wochen die Gemüter der Deutschen bewegt. Sie muss antworten können auf die so häufige wie dumme Fangfrage nach der Abseitsregel. In den Monaten vor der WM tut Angela Merkel also alles, um kleine, feine Zeichen zu setzen, die sie dem Fußball öffentlich ein wenig näher bringen. Gibt ein großes Interview, in dem sie Anekdoten aus ihrem privaten Fußballalbum erzählt - etwa, wie sie das WM-Finale 2002 bei ihren Nachbarn im uckermärkischen Hohenfelde schaute. Empfängt Klinsmann und Beckenbauer Mitte März im Kanzleramt just auf dem Höhepunkt des Streits über Klinsmanns kalifornischen Wohnsitz. Sitzt im April sechs Stunden lang auf der Tribüne des Berliner Olympiastadions und verfolgt die Pokalendspiele der Frauen und Männer. Und so setzt Angela Merkel also Zeichen um Zeichen ihres fußballerischen Wollens - wohl dosiert und sehr strategisch.
"Mensch, Jungs, Indianer kennen doch keinen Schmerz!"
Und bei aller Strategie, in manchen Momenten scheint es ihr sogar ein bisschen Spaß zu machen. Als sie am Ende des Pokalfinales zwischen Bayern München und Eintracht Frankfurt den geschlagenen Frankfurtern die Medaillen überreicht, schwenkt sie wieder und wieder die Faust durch die Luft, als wolle sie sagen: "Mensch, Jungs, Indianer kennen doch keinen Schmerz!", und dem Trainer raunt sie mit einem kleinen Schubser gegen die Schulter zu: "Sie haben aber schon eine gute Figur abgegeben." Ja, bei diesem Auftritt auf dem Berliner Rasen zeigt sich für einige Momente: Die analytische Kanzlerin wird allmählich warm mit ihrer Rolle als Fußballmami der Nation.
Bei ihren Auftritten im Ausland, ob in Wien, Washington oder Warschau - überall haben die Staatsmänner sie in den vergangenen Monaten gefragt: "Wollen wir nicht zusammen ins Stadion gehen?" Und sie hat dann gelächelt und dem Argentinier Kirchner wie dem Polen Marcinkiewicz, dem UN-Generalsekretär Annan wie dem Brasilianer Lula freundlich geantwortet: "Klar komm ich da mit."
Und so hat sie in ihrem Terminkalender bisher nicht nur die sicheren und möglichen Termine der deutschen Mannschaft freigehalten, Halbfinale und Finale sowieso, sondern auch das ein oder andere Date mit einem Staatsgast. Am 13. Juni, darum hat sie der kroatische Ministerpräsident gebeten, schaut sie mit ihm das Spiel Kroatien gegen Brasilien an. Das Finale in Berlin wird sie gemeinsam mit Kofi Annan besuchen. Ja, Angela Merkel gefällt diese Rolle als oberste Gastgeberin. Die Besuche der hohen Herren verleihen der Weltmeisterschaft einen politischen Sinn und ihr damit eine sinnvolle Aufgabe. Sie muss sich nicht dem Taumel und Irrsinn der Fans hingeben. Sie kann Außenpolitik betreiben. Das liegt ihr mehr. Das macht ihr sogar Spaß.
Mitarbeit: Stefan Braun