Die Aussagen reizen zum Widerspruch: Mehr Hartz IV löse keine Probleme. Die jetzigen Regelsätze reichten völlig aus: "Wer mit Hartz IV nicht auskommt, geht falsch mit dem Geld um." Solche starken Worte klingen für die Deutschen nach fünf Jahren Hartz IV längst vertraut: Meist stammen sie aus dem Munde von Politikern und Experten, die dem Credo "Weniger Staat, mehr Eigenverantwortung" folgen. Und üblicherweise lässt der Protest von Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden nicht lange auf sich warten, die solche Parolen als herzlos und sozial ungerecht brandmarken.
Doch die markigen Sätze, die Teil eines Beitrages von sternTV waren, stammen nicht von einem neoliberalen Wirtschaftsexperten oder der FDP. Sie kommen aus dem Munde von Songül, einer 31-jährigen Mutter, die ihre beiden Kinder allein erzieht und seit anderthalb Jahren Hartz IV bezieht. Ihren Nachnamen möchte sie öffentlich nicht genannt sehen. Nach Abzug der Fixkosten - etwa für Miete, Versicherungen, Telefon oder Strom - bleiben Songül gut 600 Euro im Monat zum Leben. Songül sagt: "Ich kann mir alles leisten, wenn auch natürlich nicht alles auf einmal."
"Regelsätze sind zu niedrig bemessen"
Von einer Erhöhung der Unterstützung hält Songül nichts. Stattdessen sollte der Staat lieber in die Bildung investieren - oder in die Betreuung von Kindern und kostenlosen Mittagessen an Schulen. Zahlreiche stern.de-Leser meldeten sich daraufhin zu Wort - mal, um die Alleinerziehende zu loben, mal, um sich über ihre harte Haltung zu beschweren.
Die Debatte über die Höhe der Regelsätze bekommt zudem in den kommenden Wochen eine politische Brisanz. Das Bundesverfassungsgericht urteilt am 9. Februar, ob die Regelsätze für Kinder angemessen sind oder nicht.
"Wir sind überzeugt, dass die Regelsätze für Kinder zu niedrig bemessen sind", sagt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. "Mit den jetzigen Sätzen ist gesellschaftliche Teilhabe, also Dinge wie die Mitgliedschaft im Sportverein oder auch Nachhilfe-Unterricht, einfach nicht machbar."
Wie berechnet man die Bedürfnisse eines Kindes?
Bislang erhält ein Hartz-IV-Empfänger einen bundesweit einheitlichen Regelsatz von 359 Euro. Dazu kommen noch ein Wohn- und Heizkostenzuschuss. Für jedes Kind erhält er noch mal einen reduzierten Regelsatz, um Ernährung und Erziehung des Nachwuchses sicherzustellen. Für Kinder unter sechs Jahren liegt er bei 215 Euro (60 Prozent des Regelsatzes) und für Kinder unter 14 Jahre bei 251 Euro (70 Prozent). Die Verfassungsrichter müssen klären, ob sich der Bedarf eines Kindes tatsächlich einfach von den Bedürfnissen eines Erwachsenen ableiten lässt, oder ob man ihn kindgerecht berechnen muss.
Schneider hat drei Forderungen: Erstens müsse den Kindern der Zugang zu solcher, wie er sagt, "Infrastruktur" ermöglicht werden. Als Zweites sollten die Regelsätze erhöht werden: "Nach der heutigen Systematik berechnet, benötigen Erwachsene unserer Ansicht nach 440 Euro pro Monat, Kinder unter sechs Jahren beispielsweise 276 Euro."
Erhöhung würde mehr als 20 Milliarden kosten
Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) würde schon eine Erhöhung auf 420 Euro für Erwachsene und auf 300 Euro für Kinder den Bundeshaushalt mit mehr als 20 Milliarden Euro pro Jahr belasten.

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Doch die Regelsätze müssten nicht zwingend so stark steigen, sagt Schneider. Bedingung dafür wäre die Erfüllung seiner dritten Forderung: Mehr Leistungen sollten individuell beantragt werden können. "Bislang wird jede Leistung als eine Pauschale berechnet", klagt Schneider. Sei ein Durchschnittwert für den Kauf von Nahrungsmitteln und Kleidung vielleicht noch sinnvoll, führe das System bei größeren Anschaffungen ins Absurde: "Da wird in den Regelsatz eine Pauschale in Höhe von 50 Cent pro Monat für die Anschaffung eines Fahrrades eingerechnet." Aber was, wenn zum Beispiel die Waschmaschine kaputt gehe? Solche Situationen seien auch der Grund für die weit über 100.000 Hartz-IV-Klagen pro Jahr.
"Die Beträge sind angemessen"
Arbeitsmarkt-Experte Holger Schäfer vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) sieht das jedoch ganz anders: "Genau diese Einzelfallbetrachtungen waren ja früher bei der Sozialhilfe das Problem: Da waren die Sozialämter den ganzen Tag damit beschäftigt, Anträge zum Beispiel für den Kauf eines Wintermantels zu beantworten."
An den Hartz-IV-Sätzen würde Schäfer - wie auch Hartz-IV-Empfängerin Songül - nichts ändern wollen. "Die Beträge sind zwar nach politischen Vorgaben berechnet worden, wir halten aber Berechnungsart und Höhe für angemessen." Es gebe sogar Stimmen in der Wissenschaft, die noch weniger Geld für ausreichend halten würden.
"Statt mehr zu zahlen, sollten wir lieber die Beteiligung an der Bildung verbessern, da gibt es noch Defizite", fordert Schäfer. Kinder aus Hartz-IV-Familien bräuchten oft eine besondere Betreuung wie beispielsweise Ganztagsunterricht.
Niedrige Abgabe auf geringe Einkommen
Streit entfacht sich auch bei den sogenannten Hinzuverdienstgrenzen. Hartz-Empfänger können neben der staatlichen Stütze noch 100 Euro abgabenfrei dazu verdienen. Von Einnahmen zwischen 100 und 800 Euro dürfen sie nur 20 Prozent behalten. Von all dem, was sie darüber hinaus bekommen, bleiben ihnen nur noch zehn Prozent. Der Gedanke dahinter: Wer ein Einkommen hat, soll die öffentliche Hand möglichst wenig belasten.
"Das führt aber dazu, dass Vollzeitarbeit für Leistungsempfänger im großen Maße unattraktiv wird", glaubt IW-Experte Schäfer. Gleichzeitig entstehe ein riesiges Angebot an günstigen Teilzeit- und 100-Euro-Jobbern, mit negativen Effekten auf den Arbeitsmarkt. Hessens Ministerpräsident Roland Koch hatte vor kurzem gefordert, wer staatliche Hilfen bekomme, müsse dafür auch jegliche Art von Arbeit übernehmen. Am Gedanken, möglicherweise auch ältere Erwerbslose zum Beispiel als Erntehelfer auf die Felder zu schicken, hatte sich bundesweite Empörung entzündet. Schließlich distanzierte sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel von zusätzlichen Sanktionsmaßnahmen.
Schäfer setzt auf finanziellen Druck: Gerade niedrige Zuverdienste müsse man mit hohen Abgaben belegen, damit eine Nachfrage nach Vollzeit entstehe. Gleichzeitig müssten die für die Jobvermittlung zuständigen Argen bessere Vermittlungsarbeit leisten.
Das ist allerdings ein Wunsch, den die Karlsruher Richter mit ihrem Urteilsspruch wohl nicht erfüllen können.