Mitten in der Nacht eine gespenstische Szene in der Innenstadt von Stade: taghell ausgeleuchtet mit großen Scheinwerfern liegen zwei junge Männer vor dem mit Atommüll beladenen Zug aus dem nahe gelegenen Kraftwerk. Sie sind fest miteinander verbunden durch ein Ofenrohr, das unter der Schiene durchgeschoben ist. Über ihnen kreist ein Hubschrauber, um sie herum stehen Rettungssanitäter sowie an die hundert Einsatzkräfte von Bundesgrenzschutz und Polizei. Die beiden Aktivisten der Umweltorganisation Robin Wood können sich kaum bewegen, sind aber trotzdem zufrieden.
Rund 70 Minuten lang haben sie den Atommülltransport aufgehalten. Dann hält ein Beamter den angeketteten Männern Decken hin und stülpt ihnen Schutzhelme über, denn im nächsten Moment fliegen hohe Funken über das Gleis. Philipp Horstmann (25) und Jochen Knobloch (22) werden von ihren selbst angelegten Fesseln befreit.
Taktik der »tausend Nadelstiche«
Mit ihrer spektakulären Aktion haben die Atomkraftgegner in der Nacht zu Dienstag wieder an die schon bei Protesten im Wendland angewendeten Taktik der »tausend Nadelstiche« angeknüpft. Auch an anderen
Orten als Stade versuchten Demonstranten, durch Blockaden den Transport von insgesamt 40 abgebrannten Brennelementen aus den Kraftwerken Stade und Brunsbüttel in die Wiederaufbereitungsanlage im französischen La Hague zu verzögern.
Mal sind es sechs Atomkraftgegner wie in Wilster (Kreis Steinburg), mal 20 wie in Hamburg-Neugraben, mal 60 wie in Lüneburg oder 30 wie bei Uelzen - immer wieder müssen Einsatzkräfte anrücken, um Demonstranten von den Gleisen zu holen. Dahinter steckt das Kalkül, die Transporte durch die Einsatzkosten für die Polizei so teuer zu machen, dass sie irgendwann nicht mehr finanzierbar sind.
Polizei überrascht von den Aktionen der Atom-Gegner
Teuer dürfte auch der Einsatz zur Befreiung der beiden Robin Wood-Aktivisten in Stade geworden sein. Sie hatten das Rohr unter dem Gleisstrang durchgeschoben, von beiden Seiten die Arme hineingesteckt und sich zusammengekettet. »Wir waren so fest miteinander verbunden, dass wir es selbst nicht lösen konnten«, sagte Horstmann. Die Folge: Die Beamten vor Ort mussten das Gleis durchtrennen, um die beiden Atomkraftgegner zu befreien. Die provisorisch reparierte Stelle im Gleis konnte der Atommülltransporter dann mit nur 5 Stundenkilometern passieren.
Die Polizei war von der Aktion der Atom-Gegner jedenfalls überrascht worden. »Sie hatten die Aktion gut
vorbereitet, aber offensichtlich kurzfristig angesetzt und dann schlagartig durchgeführt», sagte der Stader Polizeisprecher Wilfried Reincke. Die beiden Robin Wood-Mitglieder sowie zwei Helfer wurden in Gewahrsam genommen und zur Vernehmung ins Stader Polizeihaus gebracht.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Jörn Freyenhagen/Hans-Jürgen Ehlers, dpa