Herr Schammann, Innenministerin Nancy Faeser hat Grenzkontrollen und Zurückweisungen an allen deutschen Landesgrenzen angeordnet – im "europarechtskonformen" Modell. Bisher ist unklar, wie das ablaufen soll. Welche Kriterien müssten dafür erfüllt sein?
Nach aktuellem EU-Recht müsste die Zuständigkeit eines anderen EU-Staates nicht nur festgestellt werden. Der betreffende Staat müsste auch der Rücküberstellung zustimmen. Das kann in der Praxis erstens viel Zeit brauchen und wird zweitens dazu führen, dass einige Staaten nicht zustimmen werden. Dann müsste erst ein EU-Verfahren angestrengt werden. Im aktuellen Recht müsste man sich also darauf einstellen, Menschen dann eben doch in einer Art Lager an der Grenze unterzubringen – auf deutschem Boden.
Die Gewerkschaft der Polizei sieht den Vorschlag eher skeptisch und verweist auf ihr knappes Personal. Wie schnell sind Grenzkontrollen umsetzbar?
Es geht ja nicht nur um Kontrollen, sondern auch um die gesamte Bearbeitung der Dublin-Rücküberstellung. Dabei sind auch andere Behörden involviert, insbesondere das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. In der gesamten Migrationsverwaltung haben wir es mit einem steigenden Fachkräftemangel zu tun. Alles, was jetzt dazu kommt, bedeutet, dass anderswo Aufgaben liegen bleiben.
Was ist das Dublin-Verfahren?
Die Dublin-Verordnung ist eine Bestimmung der Europäischen Union, die regelt, welches Land für ein Asylverfahren zuständig ist. Normalerweise ist das das Land, in dem Geflüchtete zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben. Dies soll zum Beispiel verhindern, dass in mehreren Ländern Asylanträge gestellt werden – oder Geflüchtete ins Nichts fallen. Die Regel wälzt den Druck allerdings auf die Mitgliedsstaaten ab, die an den EU-Außengrenzen liegen.
Österreich kündigte gestern an, von Deutschland zurückgewiesene Geflüchtete nicht aufzunehmen. Was passiert dann mit Betroffenen, wo sollen die Menschen hin?
Wird dieser eingeschlagene Weg konsequent weiterverfolgt, werden wir große Flüchtlingscamps an den europäischen Außengrenzen sehen. Das werden Städte ohne Hoffnung, in denen der Hass auf Europa köchelt.

Zur Person
Hannes Schammann ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hildesheim. Er ist spezialisiert auf Migrations- und Flüchtlingspolitik für Deutschland und die EU. Zuvor arbeitete er mehrere Jahre als Projektleiter für Migration und Integration bei der Robert Bosch Stiftung
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte auch, er habe die Hoffnung, "dass unsere Nachbarländer Ähnliches tun". Hebelt das nicht das Schengen-Abkommen aus?
Schon jetzt bedeuten die Staus an Binnengrenzen für viele das gefühlte Ende von Schengen.
Was bringen die Grenzkontrollen tatsächlich, um die "irreguläre Migration", von der Faeser spricht, einzudämmen?
Sie sind vor allem ein Symbol an die Nachbarstaaten Deutschlands. Vermutlich ist das Kalkül weniger, Zuzugszahlen über die Grenzschließung selbst zu reduzieren. Stattdessen hofft man darauf, dass andere Staaten ihrerseits die Grenzen dichtmachen und die EU insgesamt ihre Außengrenzen ertüchtigt. Dies kann kurz- und mittelfristig sogar tatsächlich zu einer Reduktion der Zahlen führen.
Und langfristig?
Perspektivisch muss man sich überlegen, wie man weltweit mit einer immer größeren Zahl an Schutzsuchenden umgeht. Aktuell streicht Deutschland beispielsweise auch Mittel in der internationalen Friedensarbeit. Wollen Deutschland und die EU daher aus ihren Schutzverpflichtungen ausscheren, müssen sie die Grenzen immer weiter aufrüsten. Sie werden zudem in Kauf nehmen müssen, dass das Vertrauen in die bestehende Weltordnung und in die Vorreiterrolle liberaler Demokratien immer weiter abnimmt.

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Löst dieser Vorschlag denn die Probleme, die wir gerade haben?
Die Maßnahmen sind vor dem Hintergrund der aktuellen Wahlen verständlich. Aber sie werden weder das Problem steigender weltweiter Flüchtlingszahlen lösen, noch das Vertrauen in die Demokratie wiederherstellen. Wir müssen endlich verstehen, dass die Unzufriedenheit vieler Menschen mit der Migrationspolitik eher ein Symptom für tiefer liegende Probleme sind.
Die repräsentative liberale Demokratie muss Antworten liefern, warum sie weiter die beste Regierungsform ist. Und das Wirtschaftssystem muss zeigen, wie es das Versprechen des Wohlstands für alle einlösen kann. Wenn diese großen Themen befriedigend bearbeitet werden, wird Migrationspolitik nicht mehr wahlentscheidend sein.
Weitere Quellen: Bundeszentrale für politische Bildung